Quittsein II: Verstopfte Ohren (12 Storys)

  

Christian Fries
Quitt Sein II: Verstopfte Ohren

12 Storys

 

 

Schlägerei vor dem Theater

 

Vor dem Theater in Eisenstadt schlage ich N. mit der Faust ins Gesicht.

Sie brüllt nach der Polizei.

„Lass uns vernünftig sein“, sage ich leise zu ihr. Wieso bin ich auch hergekommen! 

„Wir fahren jetzt zu dir, ich hole meine Sachen, dann lassen wir voneinander ab.“

Später stehe ich in der Küche meines Bruders. „Du bist gefährdet“, sagt er, in ungewohnter, brüderlicher Ruhe und schiebt mir das linke Augenlid nach oben.

Ich zucke mit den Achseln.

Im Zug zurück an die Küste (spät nachts) stehe ich auf dem Gang und halte mein tränennasses Gesicht hinaus in den Fahrtwind. Das Weibliche, Weibliche ... Etwas unterm Herzen tragen: ein Kind, einen Roman – einen Roman austragen, nähren ... Warten können! Alles dauert so lang, wie es braucht – was immer du (du Mann!) beschleu-

nigen möchtest, es wird aus dem Lot geraten. Was du zwingst, wirst du zerstören. Vor der Zeit ans Licht bringen heißt abtreiben. Ich sehe die leise, melancholische Frau vor mir, die ich gern wäre, schweigsam, ihr Kind an der Hand, unterwegs über Feldwege. Welch gespenstische Stille, welch gespenstischen Stillstand es auszuhalten gilt! Wie könnte ich darauf vertrauen, dass aus der Einkehr, der Bodenlosigkeit – denn in der Einkehr droht die Bodenlosigkeit – die Blüte hervortritt!

 

 

 

Verstopfte Ohren

 

1

KIND, 4 Jahre alt, im Bett der Eltern.

Die Eltern sind nicht da.

Früher Morgen.

 

KIND: (selbsttröstend) Ulalula ... Ulalu ...

MANN: (tritt aus der Wand hervor)

KIND: (erschrickt) Wer ...

MANN: (am Fußende) Mmmmm ... (bewegt den Mund)

KIND: (versteht nicht) Ohr verstopft.

MANN: (dumpf) Hörst nicht? Warte, komme zu dir. (um das Bett herum)

KIND: (wimmernd) Nein.

MANN: (dumpf, freundlich) Liegst im Bett. Noch früh.

KIND: (nickt)

MANN: Hör mal.

KIND: (ängstlich) Hör nicht.

MANN: (nimmt eine zusammengerollte Gitarrensaite vom Nachttisch) Die liegt ja hier goldrichtig. Spielst du Gitarre?

KIND: (nickt) Nicht ... nicht gut.

MANN: Das wird bestimmt besser. Und hör mal ... Das mit den Ohren. (hebt die zusammengerollte Gitarrensaite hoch)

KIND: Nein.

MANN: (beruhigend) Was denn! (lacht) Schau mal, diese Gitarren-
saite. Wir stecken sie links in dein Ohr rein, dann kommt sie rechts wieder raus, und dann machen wir so ... zippzippzipp, hin und her. So reinigt man die Ohren. Mitten durch den Kopf durch. Sollst sehen, wie gut du dann hörst. Wollen wir das machen?

KIND: (schüttelt heftig den Kopf)

MANN: Ach, schade. 

KIND: Nein.

MANN: Das hat mir immer geholfen. Ich bin früher viel unterwegs gewesen, weißt du! Da habe ich auch diese verstopften Ohren gehabt.

KIND: Da, da ...

MANN: Mein Mund? Was ist?

KIND: (in schlimmer Angst) Ich hab Angst vor dir. (zittert)

MANN: Warum?

KIND: (jammert) Ich hab dich ja auch lieb, aber ... Ich hab Angst vor dir.

MANN: Möchtest du mich erschießen?

KIND: (wimmert)

MANN: (zärtlich) Erschieß mich doch.

KIND: (weint)

MANN: Wird sich doch einer finden, der mich erschießt. So ein kleines Kind hat doch immer jemanden bei sich, der so was machen kann. Ein Engelchen, oder? So ein Engelchen braucht das Kind. (summt) Kein Kind im Land. Kind im Land.

FRAU: (im Nebenraum) „Zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal ...“

 

In der Ferne ein Zug.

 

2

KIND, 9 JAHRE ALT: (die Gitarre auf dem Schoß, langsam) Es hat sich nie klären lassen, wer dieser Mann war. Auch wie die Szene zu Ende ging, weiß ich nicht mehr. Wie es eben ist, mit alten Erinnerungen. Ich will vernünftig sein. War es mein Vater, der mir etwas erklären wollte, und ich verstand ihn nicht? Hatte ich eine Ohrenentzündung und verstand ich ihn deshalb nicht? Aber ich war nie krank, höre ich. Natürlich kommen meine Brüder in Betracht. Gemeine Tagediebe! Aber vor allem: wer hat denn am Ende geschossen? Es ist ein Schuss gefallen. Und, ja, auch 
diese Frage ist von Belang: Wo war meine Mutter, die dem Mann, wenn es vielleicht doch ein ganz fremder Mann war, den Zutritt zum Schlafzimmer der Eltern hätte verwehren sollen. Ich habe Catrin Kohl von der Sache erzählt. Sie meint: der Mann sei doch ganz freundlich gewesen, und auch wenn sein Vorschlag vielleicht nicht tauglich gewesen sei, so habe er sich doch um meine Notlage, DIE VERSTOPFTEN OHREN, kümmern wollen. Demnach hätte ich ihn grundsätzlich missverstanden.

 

 

 

Wieder einmal zu Hause

 

1

Wieder zu Hause! Natürlich nur vorübergehend.

Die Wanduhr tickt.

Wie lange liege ich bereits wach?

Als sich jetzt das Wohnzimmer, in dem ich meine provisorische Bett-
statt aufgebaut habe, langsam mit milchigem Frühlicht füllt, entdecke ich – und natürlich erschrecke ich! – , dass meine Mutter auf einem Stuhl an der Wand sitzt und mich unverwandt ansieht.

„Was ist denn“, rufe ich aus und fahre in die Höhe.

„Schön“, sagt sie.

Was denn.

„Wie du da liegst, so geduldig, obwohl du nicht schlafen kannst. Ich wäre längst aufgestanden, hätte das Radio angemacht, hätte was gegessen – und auf jeden Fall hätte ich die Uhr angehalten.“

„Ich habe darüber nachgedacht.“

„Ich weiß. Es entspricht deinem Naturell, dass du es nicht getan hast.“

Ich falle in die Kissen zurück und starre die Decke an. 

„Was für ein seltsames Licht!“, sagt meine Mutter und tritt ans Fenster.

„Wie lange sitzt du schon da?“

Sie antwortet nicht. 

„Ich werde da immer sitzen“, sagt sie schließlich. 

Jetzt sehe ich, dass meine Mutter mir Kleidungsstücke bereitgelegt hat. Bin ich bis eben noch, eingelullt von der Stimmung des frühen Lichts und ihrer sanften Stimme, still und zugewandt, reißt es mich nun mit einem Mal wieder in die Wut hinein (die vertraute). „Das kann doch nicht wahr sein!“, brülle ich los.

„Was hast du!“, sagt Mutter. „Soweit ich weiß, ist das deine Lieblings-
hose, und als Unterhose habe ich die erstbeste ausgewählt, das machst du auch nicht anders.“

„Darum geht es nicht!“

Ich stehe längst. Ich schmeiße die Kleidungsstücke auf den Boden, ich hämmer mit den Fäusten gegen die Wand. 

„Ich hab jetzt auch dein Kistensystem verstanden“, sagt sie und weist auf die Klappkisten, in denen ich mein mobiles Büro, Bücher, Roman-
entwürfe, aber auch meine Kleidung aufbewahre, um mit raschem Griff alles, was ich brauche, nehmen und ins Auto hinaustragen zu können. Ich sehe, dass sie die Kisten, wie es sich gehört, ordentlich aufeinandergestapelt hat. „Allerdings“, sagt sie jetzt, „wird es Zeit, dass du dich von einigen Sachen trennst.“

Sie wechselt den Ton. 

Ach, ich kenne das! Eben noch in bergenden Armen, und nun: geschlossenes Tor! „Das ist meine Sache“, sage ich kalt. „Ich fülle Kiste um Kiste. Ja, es werden immer mehr, aber dann, ja, dann, wenn ich es entscheide, wenn die Zeit gekommen ist!, schmeiße ich ein paar Sachen weg und schaffe Platz.“

Mein Vater, der, offenbar schon seit geraumer Zeit, im Zimmer steht, den ich aber erst jetzt bemerke, nickt unmerklich. Er ist meiner Mei-
nung, das ist er, wenn es um solche Dinge, letzten Endes Herzens-
dinge des privatesten Besitzes
 geht, immer.

Aber ergreift er offen Partei?

„Die Zeit ist gekommen“, sagt sie ungerührt. „Jedenfalls muss im Keller Platz gemacht werden. Und deine Kisten haben sich bis dorthin verirrt. Und da unten, das siehst auch du ein, denke ich, haben sie kein Bleiberecht.“

„Müssen sie den Einmachgläsern weichen?“

„Und wenn sie nur der leeren Luft weichen müssten. Ich sage: Gießen!“

Ich weiß, was sie meint. Ich soll, so stellt sie sich vor, all das, was sich während meines durch einen Forschungsauftrag bedingten Aufent-
halts in der hessischen Universitätsstadt Gießen an Materialien und Notizen angesammelt hat, endlich und mit einem Mal dem Feuer übergeben. 

„Da siehst du“, ruf ich, „wie wenig du verstehst. Gießen – das ist gar kein einheitlicher Komplex. Wenn schon, dann ginge es ja wohl da-
rum, einen in sich abgeschlossenen Komplex vollständig auszura-
dieren, das wäre eine Tat, auf die man zurückschauen könnte, aber Gießen war nur ein osmotisches Sich-treiben-Lassen, und so sieht auch der Nachlass dieser Zeit aus. Nein“, ruf ich triumphierend, „wenn, würde es wohl um die Lebensphase gehen, die ich hier unten im Kel-
ler zugebracht habe, als du mir, erst widerwillig, dann bettelnd, dass ich nur ja bleibe! ... das kleine Zimmer überlassen hast, wo du vorher mit deinem Liebhaber Freudenstunden feiertest, diesem Montage-
arbeiter
, der die Tampons in dich reingefickt und dich grün und blau geschlagen hat, um diese Zeit würde es gehen, in der du mir regel-
mäßig die Essensreste aus der Küche oben unten im Keller vor die Tür stelltest, obwohl ich nicht darum bat. Diese Zeit, in der er“, ich weise auf meinen Vater, „zu seinen Stundenfrauen ging und ich mit Ketchup Bilder an die Wand malte. Diese Zeit, diese letzte, in der wir uns, so gut es ging, in einen Haushalt teilten – die gilt´s auszuradie-
ren.“

„Na, Maßen“, sagt sie – und meint damit den Spediteur, den sie engagieren wird, um die Zeugnisse dieser Zeit, die gesammelt im Keller liegen, ein scharf umrissener Komplex,abzuholen.

Mich packt heillose Wut. 

Ich springe, vor ihr stehend, dreimal in die Luft. Dann greife ich sie am Kragen, ich werde physisch. Aber durch den direkten Kontakt spüre ich – und überrascht halte ich inne – , wie instabil ihr Körper ist, wie steif er auf meine Attacken reagiert. Ich kann sie nicht einfach gegen die Wand drängen und würgen. Aus der Nähe sehe ich auch erst, dass sie eine Perücke trägt, und es fällt mir, Zug um Zug, das Drama ihrer Krebserkrankung ein. 

Ihr Mund steht offen, und ich sehe einen faulenden Zahn.

 

2

Es ist Nacht geworden. 

Vom frühen Mittag an habe ich mich in die Vulkanstraße 27 verkro-
chen. Ich kenne die Frauen hier nicht mehr, aber das Ambiente hat sich nicht sehr geändert. Besitzer neu, ich ein unbeschriebnes Blatt. Gewisses Misstrauen. Dass ich am Ende kommen wollte, indem ich mich wichse, aber dem Mädchen einen Finger in den Hintern stecke, das löste Befremden aus. Auch hier gibt´s Regeln.

Jetzt bin ich dissoziiert. 

Mir selbst ein loses Blatt.

Hab ich viel getrunken? Ich dachte nein. Aber wie ich halt- und kopflos die Königstraße entlangkreische, auf Streit aus (aber niemand ist da!), das wundert mich selbst. 

Ich habe mir das Oberhemd vom Leib gerissen, mit einem Schrei, der so weggurgelte (und also niemanden auf den Plan rief). Irgendwas trage ich auf der linken Schulter, aber da ich einfach nicht hinsehe, weiß ich nicht, was. Ich weiß nur, es schränkt meine Beweglichkeit ein. In der rechten Hand trage ich, das weiß ich, einen Notenständer. Stand am Straßenrand, griff ich danach. Da er aufgeklappt ist, stört auch der, aber nicht so wie das Etwas, das mich links behindert. 

Mein Unterhemd ist strahlend weiß. 

Es kommt mir fremd vor. 

Habe ich in der Vulkanstraße ein Unterhemd angezogen, das gar nicht meins war?

Irgendwann, irgendwo habe ich Grünkohl gegessen. 

Mir ist elend. Ich will nach Hause.

Ich will nicht darüber nachdenken, was mich zu Hause erwartet. Ich will nur – nach Hause.

Ich friere an den Schultern.

In der Gegend des Bahnhofs, den ich jetzt erreicht habe, wirkt die Stadt, als sei sie aufgegeben. Vielleicht soll auch hier Kohle gefördert werden, im Tagebau! Vielleicht bin ich längst zu spät! Die Schaufen-
ster der Braun´schen Buchhandlung sind von innen mit Packpapier ausgeschlagen. Der Name leuchtet, bis auf zwei Buchstaben, die ausgefallen sind, in hellen Neonbuchstaben über dem Eingang, trostlos im Nichts.

„Vater“, ruf ich, „wo bist du. Hilf mir doch!“

Ich weiß auch in dieser kopflosen Stimmung, in der ich für meine Gedanken nicht einstehen kann und in der die bizarrsten Irrtümer möglich und verzeihlich wären, dass mein Vater tot ist, aber ich sehne mich so schrecklich nach ihm, dass ich immer nur wieder stöhne: „Hilf mir, Vater!“

Eine Straßenbahn hält.

Ein Kinderwagen wird herausgehoben. 

Ich könnte es schaffen!

Von meinen Lasten gehemmt, dem Etwas links, dem Notenständer rechts, tappe ich auf den Anhänger der Bahn zu. Wie lang das dauert, irgendwo anzukommen! Ich stelle den Notenständer ab und drücke auf den Knopf an der Tür. Aber die Bahn fährt schon. Hinein in den Tunnel, der diesen Teil der Stadt vom besseren Viertel trennt, wo ich zu Hause bin. 

 

 

 

Blablacar

 

Im Auto.

Mitfahrer.

 

JUNGER MANN: (auf dem Beifahrersitz) Inzwischen habe ich mich dort bei Mercedes gut eingelebt. Ich kann sagen, ich bin beliebt. Die Arbeit als solche, das ist ja klar – die muss laufen. Aber es gibt ja auch Situationen, da sind andere Qualitäten gefragt. Men-
schenkenntnis, und Verständnis füreinander. Und man muss sich wünschen, überall für Frieden zu sorgen. Das fängt im Kleinen an. Ich liebe meine Familie. Ich liebe Gott.

ICH: (am Steuer) Das kann ich nicht sagen.

JUNGER MANN: Das glaubst du nur.

ICH: Was?

JUNGER MANN: Dass du Gott nicht liebst. Es gibt keinen Menschen, der nicht in Wirklichkeit Gott liebt.

ICH: Das sagt wer?

JUNGER MANN: (erleuchtet) Gott.

ICH: Das hat er dir gesagt?

JUNGER MANN: Das braucht er mir nicht zu sagen. Es steht in den Schriften.

ICH: Als ich sie das letzte Mal gelesen habe, stand was anderes drin.

JUNGER MANN: Was denn?

ICH: Dass, wer an ihn glaubt, die Kornkammern voll hat.

JUNGER MANN: (unschuldig) Natürlich. Voll. Jederzeit.

ICH: Glückwunsch.

JUNGER MANN: Ich komme aus Albanien.

ICH: (verdutzt)

JUNGER MANN: Jetzt jährt sich Srebrenica. Weißt du, was da passiert ist?

ICH: Ja, sicher.

JUNGER MANN: (verdutzt) Ja?

ICH: (schweigt) 

JUNGER MANN: (erregt) Niemand interessiert sich dafür.

ICH: Ich glaube schon.

JUNGER MANN: Die Politik. Niemand.

ICH: Das trifft nicht ganz zu.

JUNGER MANN: Ich will mit jedem Freund sein. Menschen sollen einander Freunde sein.

ICH: Und was hältst du von den Serben?

JUNGER MANN: Können auch meine Freunde sein. Ich hatte viele Freunde, die Serben waren. Aber hör mal – klar, als ich klein war ... Da haben die Eltern zu mir gesagt: Das ist ein Serbe, sprich nicht mit ihm.

ICH: Aha.

JUNGER MANN: Ja, aber wenn einer sagt, ich will dein Freund sein, dann bin ich bereit. 

         Das ist Gottes Gebot.

ICH: Wirklich? Und wenn jemand sagt, dass ihn das Gebot deines Gottes nicht interessiert? Mich interessiert dein Gott nicht sehr.

JUNGER MANN: Das meinst du. Gott ist groß. Er erleuchtet jeden, früher oder später.

ICH: Das soll er mal schön bleiben lassen. 

         Wie kommt es, dass du an Gott glaubst.

JUNGER MANN: (zuckt die Achseln) Immer schon.

ICH: Wo begegnet er dir? Wozu brauchst du ihn? 

         Du verstehst die Frage nicht.

JUNGER MANN: Doch, ich verstehe. 

         Gott muss es geben. Wo kommen sonst die Menschen her?

ICH: Die stammen vom Affen ab.

JUNGER MANN: (lacht)

ICH: (schaut zu ihm hinüber) Was ist?

JUNGER MANN: Das ist lustig.

ICH: Weißt du nicht, dass die Menschen vom Affen abstammen?

JUNGER MANN: Das ist ja Unsinn.

ICH: Ich glaube nicht. Was glaubst denn du?

JUNGER MANN: Woher die Menschen kommen?

ICH: (nickt)

JUNGER MANN: Gott.

ICH: Ach so. Adam und Eva, oder wie immer die Ureltern bei euch ...

JUNGER MANN: Das ist ja bei uns genau dasselbe. (hält einen kleinen Vortrag über die abrahamitischen Religionen)

ICH: Gut. Und du meinst, Gott hat die beiden, Adam und Eva, irgendwo in die Landschaft gestellt, fix und fertig, und dann ging es los, mit der Menschheitsgeschichte?

JUNGER MANN: Wie sonst?

ICH: (skizziert die Evolutionstheorie)

JUNGER MANN: (lacht) Ich muss lachen. Glaubt das wirklich jemand?

ICH: Wäre es schlimm, vom Affen abzustammen?

JUNGER MANN: Ekelhaft.

ICH: (schüttelt entsetzt den Kopf) Bildung ist ein hohes Gut. 

         Hör mal! Bist du mal im Zoo gewesen?

JUNGER MANN: Nein, wozu.

ICH: Geh in einen Zoo! Setz dich vor den Affenkäfig. Beobachte so einen Gorilla, so einen Orang Utan, und wenn du nach einer halben Stunde noch daran zweifelst, dass du mit diesem Tier verwandt bist, dann ... dann gnade dir Gott ...

JUNGER MANN: Gott ist groß.

ICH: Das sagen alle. Wirklich alle. Wo begegnet er dir? Ganz persön-
lich. Ich meine, wann spürst du seine Anwesenheit? Oder seine Existenz. Ich nehme an, dein Vater hat dir erklärt, dass da ein lieber Gott ist usw., und weil dein Vater – wie ich annehme – immer Recht hat, hat er selbstverständlich auch in diesem Punkt Recht. Du sagst, du heiratest, und dann wirst du es genauso machen, deinem Sohn erklären, wie die Dinge liegen. Dass es auf keinen Fall etwas mit Affen zu tun hat. Und so geht das endlos weiter. Ohne dass du dir auch nur einen kleinen Gedan-
ken machst.

JUNGER MANN: (freundlich) Ich denke sehr viel nach. Ich lese nicht viel. Aber ich denke viel. Über Gott denke ich nach.

ICH: (schweigt)

JUNGER MANN: Wenn ich bete, spüre ich ihn. Ich spüre ... Es läuft mir den Rücken runter, ich spüre ...

ICH: Ekstase.

JUNGER MANN: Ja. So etwas. Ich weine. Ich weine, verstehst du?

ICH: Das hat nichts zu bedeuten. (weint)

JUNGER MANN: Nun ist Gott anwesend.

ICH: Nein. Ich weine über etwas anderes.

JUNGER MANN: Über was.

ICH: Ich fühle mich bedroht. Von dir. Ich empfinde Einsamkeit. Mit dir nicht reden zu können. Und es auch nicht zu wollen. Geh zu deinem Vater, sag ihm, dass du einen Ungläubigen getroffen hast, der daran glaubt, dass der Mensch vom Affen abstammt. Aber schick nicht deine Brüder vorbei, damit sie mir die wahre Lehre erteilen. Sonst sag ich meinem großen Bruder Bescheid. Und was dann passiert, das weißt du ja. Das hast du in deiner Kindheit ja schon einmal erlebt.

JUNGER MANN: Trotzdem! Gute Fahrt. (steigt aus)

ICH: (fährt weiter) Gibt es das.

HANS: (auf der Rückbank) Du hast dich tapfer geschlagen.

ICH: Fühlst du dich auch von der Religion bedroht?

HANS: Von welcher?

ICH: Von allen.

HANS: Nein, nicht so sehr. Ich mache meine Arbeit.

ICH: Du bist ein schöner Mensch.

HANS: Na, danke.

 

 

 

Kinder im Tunnel

 

1

Wir Kinder werden alle (miteinander, nacheinander) in einen schmalen Gang hineingedrückt. „Geht da rein!“, heißt es – von einer Stimme weit hinter uns.

Ich schaue angestrengt auf die weißen, halbhohen Kniestrümpfe des Mädchens vor mir.

Vielleicht ist es (die Stimme hallt nach, ein Lautsprecher scheppert) Yvonne Prieur! Yvonne ist von allen bösen Mädchen, weit voran, die böseste. Sie petzt, sie ulkt – und weil sie die Tochter des Tierarztes ist und weil sie Wind davon bekommen hat, dass mein Bruder, der dort eine Lehre macht, sich ungeschickt anstellt, hat sie auch noch den Schein des Rechts auf ihrer Seite, wenn sie mir ins Ohr brüllt: „Wo geht´s lang – ein Mensch muss wissen, ob die Spritze intramuskulär oder intravenös gesetzt wird, sonst ist das teure Rennpferd hin! Tot-tot-tot!“

Ich halte mein Radiergummi fest in der Hand – das Frau Rühle, die Lehrerin, die, wie meine Mutter sagt, „patent“ ist, aber schlecht riecht, nicht gern in meiner Hand sieht – , halte es fest, während wir, wie die Viecher, in den schmalen Gang hineingetrieben werden, und wir het-
zen, stolpern über die eignen Beine und die der andern, und jemand weint, das Weinen klebt förmlich an den kahlen, unbehauenen Wän-
den. Dann ertönt ein Pfiff, wir bleiben alle stehen. Wir keuchen, wir stöhnen und drängen uns aneinander. Rolf meint, wir sollten Platz machen, sicher kämen Sanitäter mit einer Bahre, es sei wie auf der Autobahn, da müssten die Autos in solch einem Fall eine Rettungs-
gasse bilden, damit der Rote-Kreuz-Wagen durchkommen könne, schlimmstenfalls der Leichenwagen.

Wir drücken uns an die Wand, wir machen Platz. Ja, wir verschmelzen mit den Steinen. Wir sind nur noch ein Steinzeitgemälde.

Wir hören die Stimme, weit entfernt.

„Kalkstein – Totgeburt – Liebesleistung – Veränderung ...“

SCHWIERIGE WORTE! 

Die Aufzählung SCHWIERIGER WORTE will kein Ende nehmen, aber wir sind trainiert, wir behalten sie alle im Kopf.

Mit Stolz, mit Bedacht. 

Und jetzt wissen wir wieder, worum es geht. Wir sollen aus diesen 
SCHWIERIGEN WORTEN eine Geschichte machen. 

So einfach ist die Aufgabe. 

Und auch der schmale Gang, in dem wir schon unser Ende nah wähn-
ten, ist so unwirtlich nicht, wie es schien. Die ersten klappen Sitze aus der Wand, am Boden entdecken wir – jetzt, da es etwas heller wird – interessante, freundliche Mosaike, und wir lassen uns alle nieder, um der geforderten Aufgabe, aus den SCHWIERIGEN WORTEN eine Geschichte zu machen, nachzukommen.

Es ist sehr schön (und gemütlich), wenn Menschen beieinandersitzen und konzentriert einer Aufgabe nachgehen. Es ist fast still, und doch spürt man die Gedanken. Eine Horde Hunde – macht Angst. Eine Horde denkender Menschen, und wären es nur Kinder ... Nun, wäre ich ein Hund, diese denkenden Menschen würden mir auch Angst ma-
chen. (Was ist ein Zahn gegen eine Idee.)

Ich kaue an den Worten.

Totgeburt – ist schwierig. 

Ich schreibe: „Wird ein Kind tot geboren, sind alle, die es angeht, traurig. Sie haben ja in Gedanken bereits ein halbes Leben für das Kind durchdacht – nun war alles umsonst. Vielleicht hätten sie das nicht tun sollen. Vielleicht hat sich das Kind gefürchtet. Vor dem, was sie gedacht haben.“

Ich bin, wie meist bei Klassenarbeiten, bald (und als erster) fertig. 
Frau Rühle – wir bilden erneut eine Gasse – sammelt die Arbeiten ein. Yvonne bittet um mehr Papier, Rolf fragt nach der Rechtschreibung des Wortes „resolut“. Ich überlege, welche Buchstaben denn fraglich wären – und beginne, mich zu langweilen. Ich überlege mir, Frau Rühle zu helfen, folge ihr durch den schmalen Gang, sammel die Arbeiten ein, die fertig werden, während sie schon weiter vorn ist – ich lese den einen oder anderen Satz, zum Beispiel: „Hilf mir, Brotkasten!“ Kam das Wort vor? Natürlich, jetzt fällt es mir wieder ein. „Ein Brotka-
sten ist wie ein großes Maul“, habe ich geschrieben. Selbst Yvonne hat mir ihre Geschichte gegeben! Ich könnte sie, falls sie gut ist, verschwinden lassen, ich könnte sie, falls sie schlecht ist, obenauf legen. 

Erst als ich Frau Rühle bis in einen sich öffnenden, hohen Saal ge-
folgt bin, wo auf erhöhtem Posten drei unnatürlich groß wirkende Menschen an einem langen Pult sitzen, und Frau Rühle ihnen die Arbeiten reicht – sie wirkt ganz klein zu ihren Füßen – und als auch ich mich auf die Fußspitzen stelle und die Blätter, die ich eingesammelt habe, auf das Pult lege, überfällt mich plötzlich eine Sorge: War ich bis jetzt mit meiner Geschichte zufrieden, sie schien mir in ausgewogener Weise Außen und Innen, die gegebenen Worte und den Fluss meines inneren Lebens, Freud und Leid eines Kinderherzens zu vereinen, so wird mir nun schreckhaft klar – und ich denke noch einmal an die Geschichten der anderen, die ich im Einsammeln überflogen habe – , dass die Aufgabe möglicherweise darin bestand, die SCHWIERIGEN WORTE in genau der Reihenfolge abzuarbeiten, in der sie uns diktiert wurden. Die andern, scheint mir, haben das getan. Ich nicht.

Die drei Juroren kümmern sich nicht um die Arbeiten, die unbeachtet auf einem Haufen am Rand des Pults liegen. Ich pirsche mich heran. Ich blättere, so verdeckt es geht, die Arbeiten durch. Ich finde meine Arbeit nicht.

Irgendjemand hat alle Blätter mit einer Klammer zusammengeheftet.

Ich weine nun, vor Wut und Traurigkeit.

Es ging doch, denke ich, um eine kreative Aneignung der Vorgaben. Was tut die Reihenfolge zur Sache!

Ich blättere, ich blättere.

Ich werde meinen Fall verhandeln.

Ein Pfiff ertönt.

Vor mir, auf Augenhöhe, sehe ich die Hüfte einer Frau. Sie gehört zur Jury, sie ist übergroß, und ihr Fleisch – das verdeckt auch das weite Faltenkleid nicht, das sie trägt – hängt dick und wulstig an ihr herab.

 

2

Rebecca fragt mich: „Hast du mit der Filialleiterin gesprochen?“

„Nein“, sage ich.

Ihr Gesicht reagiert. Es wird aschfahl.

„Also“, sagt sie.

„Ja“, ich nicke. „Ich will fortgehen. Es wird mein letztes Jahr bei REGLER BAU. Hier in ...“

„In M...“

Jeder schaut in eine andere Richtung.

„Wieder ein Lebensabschnitt vorbei“, sagt sie tonlos. „Wir werden auseinandergerissen, alle – “

Das ist nicht überraschend.

„Auseinandergerissen. Durch eigene Entscheidung. Mit welchem Gewinn?“

Es ist, als spräche sie mit sich selbst. Sie geht langsam den Weg in Richtung Kirche davon und verschwindet im Schatten der Häuser.

Ich sehe ihr nach.

Ich habe Angst, krank zu sein. Angst, dass ich sterbe und sich meine Pläne auf diese Weise erfüllen: mein letztes Jahr, hier, irgendwo ... 
Ich komme von dem Gedanken nicht los - wie kalt mir ist! – , dass mein Körper sich in diesen Tagen zwischen Leben und Tod entschei-
det. Jenseits meiner bewussten Gedanken, jeder Einflussnahme entzogen.

Rebecca ist fort.

Wären meine Gefühle anders, wenn ich eine andere Entscheidung getroffen hätte?

 

 

 

WG

 

KLUTH: (öffnet die Tür zur Toilette)

VIOLA: (auf der Klobrille sitzend) Guten Morgen.

KLUTH: Guten Morgen. (schließt die Tür)

 

Jemand sitzt auf dem Fenstersims, Beine nach draußen, immer-
hin 1. Stock.

 

RIKE: Wenn du gehst, diesmal bleib ich nicht allein zurück.

KLUTH: (stößt sie vor die Brust)

HANNS Z., DER BEKANNTE SCHAUSPIELER: (setzt sich an den gedeckten Tisch) Na, na. 

KLUTH: Nicht einmal er hat einen Monolog auf Lager.

HANNS Z.: Schon. Immer.

 

Bagger fährt am Haus vorbei.

 

HANNS Z.: (weist auf KLUTH) Das ist euer Kollege. Der, der überall für Unruhe sorgt.

KLUTH: Ich glaube, das ist ein andrer. Wir sind sechs Männer in der Klasse, jeder kommt in Frage. (fährt das Auto vor die Litfass-
säule) Bin´s satt, euch immer rumzufahren. Nun hat keiner mehr ein Auto. Ja, ich habe Klavier studiert. Ja, ich übe morgens Fu-
gen von Hindemith. Während hier das Leben erwacht. Denn mein Flügel steht in dieser WG im Durchgangszimmer. Weil ich selbst noch keine Bleibe habe. Ich komme also direkt von den Lagerhallen am Güterbahnhof, wo ich mit Kids im Alter von 12, 13 hause, hierher, und setze mich an den Flügel, der 60.000 E schwer ist. Ich übe das Klavierkonzert von Schönberg, das, so vermute ich, in den letzten zehn Jahren nirgends auf der Welt gespielt wurde. Von rechts sehe ich Konrad kommen, verschla-
fen, der hat also Viola gefickt, obwohl Viola doch einen Freund hat, einen, der in einer TV-Serie mitspielt, ein großer Grinser 
vor dem Herrn! Und von links kommt Rike, die redet immer von Hanns Z., dem bekannten Schauspieler, aber der ist doppelt so alt wie wir und sicher klüger, als man meint.

HANNS Z.: Ich find´s gut, dass du dich äußerst. Du bist noch ein bisschen unten rum, aber das wird sich ja legen. Ich interessiere mich sehr für Kafka. Kennst du den?

KLUTH: Ist das der Hausierer, der immer an die Wände der Einfahrt pisst?

 

Wir fahren zusammen zur Krummen Lanke.

Wir schwimmen.

Hanns Z. ist vorn weg, ein Athlet.

Dann steigt er drüben am andern Ufer aus dem Wasser und verschwindet.

Wir wissen nicht, was wir tun sollen.

Wir trauen uns nicht, rüberzuschwimmen.

Wir nehmen seine Kleider mit.

 

Susanne L., die bekannte Schauspielerin, ist tot.

 

 

 

Weihnachtsmarkt

 

- Haben Sie es in all den Jahren Ihrer Tätigkeit, Herr Dr. Übel (sage ich, schaue ihn herausfordernd an), erlebt, dass ein ... Klient, ein armer Teufel, der Ihnen hier mit seinen psychischen Leiden gegen-
übersitzt, in plötzlicher Energie aufgesprungen wäre und gerufen hätte: Es lebe das Leben?

- (Dr. Übel hustet.) Ich denke ja. Ich müsste die Liste der Klienten durchgehen.

- Oder vor Ihnen niedergekniet wäre und Ihnen gedankt hätte?

- Wir Therapeuten verlangen so etwas nicht.

- Oder überhaupt ... etwas Unerwartetes getan hätte?

- Wie zum Beispiel?

- Heiraten, Kinder bekommen!

- Einige Scheidungen stellen eine Art Vorläufer dar.

- Dies ist doch hier (ich brülle) eine Art AUFBEWAHRUNGSANSTALT ... FÜR EINSAME HERZEN. Es ist so großartig, dass Sie zuhören, Herr Dr. Übel. Niemand hört zu wie Sie, ich werde auf ewig hier sitzenbleiben. Es ist ein Sandkastenspiel, was will ich denn mehr.

- Also, ich habe von Anfang an ...

- Was? (Ich halte mich an einem Seil fest.)

- Von Anfang an, schon gleich zu Beginn ...

- Als ich mich in Ihrer Praxis herumdrückte! 

- Ja, damals schon gedacht, sagen wir mal: den Eindruck gehabt ... (Dr. Übel beugt sich vom Rand des Brunnens zu mir herab, während ich an dem Seil in die Höhe zu klettern versuche und doch immer tiefer sinke.)

- Sagen Sie nur, was Sie denken, Dr. Übel! (Ich rufe.)

- Ja, ich habe da keine Hemmung. Hören Sie mich? 

- Ja, noch ja. (Ich rufe lauter.) Was denn jetzt? Sie hatten den Ein-
druck ...

- Dass Sie große Schwierigkeiten haben ... 

- Die habe ich.

- Nein, nein.

- Doch.

- Nein, der Satz ...

- Ach so. Satz geht wei- ... Was? ...

- Schwierigkeiten haben ... (Auch Dr. Übel ruft nun lauter, und ich sehe, wie die Silhouette seines rechten Arms vor dem kreisrunden Himmelsausschnitt über dem Brunnen bestätigend herumrudert.)

- Schwierigkeiten? ...

- Schwierigkeiten, zu den Menschen durch-zu-drin-gäään.

- Ja, das stimmt. (Ich klettre und sinke weiter.)

- Es ist für Sie nicht selbstverständlich, dass ... 

- Was?

- Im Kontakt mit an-de-räään ...

- Nein!

Verständnis ... dass es zu Verstääändnis eben ... 

- Nein, das ist nicht meine Normalerfahruuung. (Ich brülle.)

- (Dr. Übel von fern, eindringlich:) Wir müssen herausfinden, welche Erfahrungen dahinterstecken. (Seine Stimme dringt nur noch sehr leise zu mir herunter.)

- (Sehr laut, tief unten am Seil:) Ja, ich bin einverstanden! (Meine Stimme klingt dumpf.)

 

Als ich mit Pool über den Weihnachtsmarkt spaziere, schüttelt der nur den Kopf. „Der Mann hat einen Knall“, sagt er. „Das ist die Normaler-
fahrung jedes Menschen. Wer glaubt, er wird verstanden, hat keinen Grips im Kopf. Das Merkwürdige ist doch grade, dass wir uns trotz-
dem verstehen – ohne uns zu verstehen. Es geht eben holterdipolter
irgendwie!“, er fasst mich am Kinn, dreht meinen Kopf zu sich und küsst mich auf den Mund. „Gehen wir zu mir und haben Sex?“

„Gut“, sage ich, „einverstanden.“

Er zeigt mir dann Sachen, die er seit seiner Jugend erprobt und verfeinert hat, wirklich amazing.

Ich gewinne wieder Mut, dass alles irgendwie ist.

Pool ist keiner, an dem zu gesunden wäre.

Aber eben ein guter Durchschnittsfreund, mit einer feinen, unbe-
haarten Brust.

Er gefällt mir. 

 

 

 

Rosalind

 

Ich hätte sie nicht mit hierher nehmen sollen! Jetzt macht sie Faxen ohne Ende. Sie hat sich in Mutters Schlafzimmer verbarrikadiert. Und draußen, vor der Tür, etwas mit Kinderschrift an die Wand gemalt. Ich kann es nicht entziffern: Sein ... Seine ... Die Wohnung ist in abgeris-
senem Zustand, ja, an vielen Wänden löst sich die Tapete, und es bröckelt der Putz. Aber einfach etwas mit Tinte an die Wand malen? 

Ungebeten.

Als Gast.

Komm da raus!, rufe ich.

Hier ist es himmlisch!, ruft sie zurück.

Es liegt noch eine alte Matratze im Zimmer, so weit ich mich erinne-
re. Sonst nichts. Und aus dem Fenster sieht man in den Garagenhof hinaus. Häuser im Viertel, die um diese Zeit erleuchtet sind, eine rie-
sige Pappel im Garten. Wenn sie das himmlisch nennt!

Mach keinen Quatsch!, rufe ich drohend. Schlaf bei mir!

Ich höre nichts.

Vorhin, auf der Straße, habe ich mit Mühe verhindern können, dass sie den hünenhaften Kerl, der an der Straßenecke stand und beobachte-
te, wie wir mit zurückgelegten Köpfen und weit geöffneten Mündern (und großem Hallo) versuchten, unsere Zungen umeinander zu schlin-
gen, mit in die Wohnung nimmt. Sie ist ja so: sie wechselt ein paar Worte mit jemandem, und schon ist sie gut Freund. „Wir trinken was zusammen!“, und der Mann ist drin im Geschehen. DER NICHT!, dachte ich gleich. Ich sagte einfach: SMARTIE, UNSER BULLTER-
RIER, kann solche Typen nicht riechen. Ob er mir glaubte, weiß ich nicht. Er ließ ab. Er war eine Gefahrenquelle, dachte ich, die man im Hause nicht dulden darf. (Gleichzeitig dachte ich resigniert, dass er die Art Gefahrenquelle ist, deren Eindringen ins Haus man nicht verhin-
dern kann, und ich war mir im Folgenden auch keinesfalls sicher, dass ich ihn nicht plötzlich an unerwartetem Ort, etwa in der Speisekammer, vorfinden würde, vor den leeren Regalen, einen Zahnstocher lässig im Mund, eisig grinsend, in der Hand einen Zettel, auf dem er Rosalinds und meine Orgasmen zählt.)

Ich ohrfeigte Rosalind, als sie den zufällig vorbeigehenden Antonio, den ich ganz woanders wähnte, in Italien, um genau zu sein, und der beim Gehen in einer Broschüre las, überfiel und auch ihm die Zunge in den Hals steckte. Es reicht jetzt!, sagte ich, ohrfeigte sie noch mal, und nickte Antonio zu. Er wischte sich den Mund ab, und war erstaunt-entgeistert, aber auch, nicht zu übersehen, ein wenig erfreut! ... Sie ließ sich missmutig ins Haus ziehen, in die leere Wohnung, und dort begann dann der Kampf um das ZUSAMMENSEIN und das SCHREI-

BEN AN DEN WÄNDEN und das OKKUPIEREN DER MUTTER-

SCHLAFSTATT, ich hatte alle Hände voll zu tun.

 

Morgens wurde ich wach und fand mich am vereisten Fenster des Kinderzimmers vor. Mein Mund klebte fest an der Scheibe. Ich muss irgendetwas Entsprechendes geträumt haben.

 

 

 

Abendfluss 

 

1

Ich höre, wie hinter mir eine Frau einen ungewöhnlichen Laut aus-
stößt. Zum Teufel! Das klingt ja – klingt ja wie ein gurgelnder Küchen-
abfluss, ja, haargenau wie der gurgelnde Abfluss in der Küche meiner Mutter. Das kann doch ein Mensch mit seinen Stimmwerkzeugen gar nicht produzieren!, denke ich. Und stoße im selben Moment denselben Laut aus, ganz instinktiv, und erschrecke eine andere Frau – das ist nun schon die zweite in meiner Erzählung – mit diesem Laut, der mir, ich weiß nicht wie, gelungen ist, nur indem ich dem Laut, den die Frau hinter mir ausstieß, nachhorchte. 

Ich bin von den Möglichkeiten INSTINKTIVER NACHAHMUNG begeistert.

Aber ich empfinde auch Scham.

Die Frau, die mir entgegenkam und die ich mit meinem gurgelnden Laut erschreckt habe, schaut mich verstört an. Ich ziehe den Hut und sage: „Es steckt im Hals.“ Sie fasst es nach ihrer Art auf, repariert den Absatz ihres Schuhs und entfernt sich. Und dringlicher ist, denke ich jetzt, die Frage, wie ich der ersten Frau begegnen soll.

Der hinter mir.

Der, die als erste den gurgelnden Laut ausgestoßen hat.

Der, die sich jetzt langsam an meine Seite schiebt. Millimeterweise schließt sie auf.

 

2

Erst einmal: wo sind wir!

Am ABENDFLUSS.

Das ist ein Kanalarm, der vom Hafen bis hierher in teuren Wohnviertel reicht und hier endet. „Wie ein Kopfbahnhof“, denke ich. Beim Kopf-
bahnhof rollt was rein, der Zug, hier die Wasserbewegung, sie stößt an und muss umkehren, wie der Zug im Bahnhof.

„Umkehren“, denke ich immer wieder. „Umdrehen. Umwenden.“

Und hier, am Ufer des ABENDFLUSSES, auf der belebteren Seite, wo die bunten, an New Orleans erinnernden Häuser stehen, da gehen wir nun, fast auf gleicher Höhe, die Frau und ich. Und wie wir mal im Gleichschritt gehen, dann den Rhythmus wieder verlieren, sanft im Wechsel, das wirkt so verästeltfein und geprobt, dass ich denke: Wo ist die Kamera!

 

3

Bisher habe ich Angst gehabt. Die Frau könnte mich zur Rechenschaft ziehen. Weil ich ihren gurgelnden Laut nachgeahmt habe. Aber man-
che Gedanken, manche Gefühle, verlieren sich einfach. Ich schaue auf den Boden vor mir, und ich sehe ihren Schatten. Ei, das kann doch nicht wahr sein! Wie wunderschön zeichnen sich die sanften Linien ih-
rer Knabenbrüste ab, an ihrem Schatten, was für einen wunderbaren Winkel wählt die Sonne um diese Zeit hier am ABENDFLUSS, dass sie mir das schenkt, und sieh da!, auch ein paar Haarsträhnen fallen malerisch in ihre Schatten-Stirn. Ich möchte die Frau darauf aufmerk-
sam machen, wie hübsch ihr Schatten aussieht. Aber es geht nicht. Denn, klar! – beugt sie sich vor, um zu sehen, was ich sehe, so zer-
stört sie, indem sie sich vorbeugt, das Bild, und was sie sieht, wird ein dunkler Klumpen sein. Das bin nicht ich!, sagt sie dann!

Sie ist hübsch, ich sehe es jetzt.

Sie trägt ein weiß-blau gestreiftes Sommerkleid.

Sie ist streng, aber doch auch leicht in allem, was sie tut.

Nein, denke ich. Sie ist eigentlich ... kalt.

Nein, sagt sie, sie ist eisig.

Ich finde sie ganz ... interessant.

 

4

Ich weiß nun auch, warum wir hier gehen! Wir wohnen hier, jeder jeweils in der Nähe des anderen. 

Und schon springt sie unerwartet in einen Laden hinein, denn dort, über dem Laden, wohnt sie. Ihre Bewegung erfolgt so rasch! Und ehe ich mich ... abwende, blitzt ein Schild über dem Laden auf: Oh nein!, eine METZGEREI.

Ich öffne den Mund: Bitterkeit.

 

5

Da ich weiß, dass die Frau hier am Ufer des ABENDFLUSSES in einem Haus mit höherer Hausnummer wohnt als ich, schließe ich aus den Vorgängen, dass ich an meinem Haus bereits vorübergegangen bin. Ohne es zu merken. Ich war abgelenkt. Von dem schönen Schat-
ten
. Von ihrem schönen Kleid.

Die Sonne scheint hell und lustig. 

Nur ich empfinde den Tag als bedrückend. 

Ich bin umgekehrt.

Alle diese bunten Häuser befriedigen mich nicht.

In keinem könnte ich wohnen.

Keines gäbe mir Geborgenheit.

Aber warum finde ich es nicht, das einzige Haus, in dem ich mir mei-
ner selbst und vor mir selbst sicher sein kann. Meines eben. Hier schaut eines mit einem lieblichen Erker auf mich herab, hier steht eins baumhoch in den Himmel hinauf gereckt, freudvoll, hier springt eins, wie ein unruhiger Läufer, auf dem Gehsteig vor und zurück, und alle habe ich sie gern, und würde sie zum Beispiel gern zeichnen oder 
filmen: den unruhigen Läufer (vor dem Start), aber alle diese Häuser sind nicht meins.

 

6

- Guten Tag, Herr Rudel.

- Hallo, Selma. Wie geht´s dir denn?

- Ach, gut, Herr Rudel.

- Ei, ei, ei.

- Ja, und ihr Auto?

- Ach, denk dir, Selma, Kleines. Es ist ganz zerquetscht ... ja, vollkommen SMASHED. 

- Ach.

- Ja wirklich. Es sieht aus wie ne – wie ne Ziehharmonika.

- Das möchte ich sehen.

- Es ist jetzt schon da, wo Autos begraben werden.

- So. So.

- Ja. Ja. Du Kleine –

- Und Pappa ...

- Dein Pappa, ja? ...

- Das sind, ich glaub ...

- Ja, wovon redest du?

- 1.000 Euro.

- Aha ...

- Naja, Sie haben ihn ja gerammt.

- Nur berührt, ganz leicht. Das war vor dem Unfall, Selma.

- Und da, meinen Sie, müssen Sie nicht mehr dafür aufkommen.

- Das stimmt, Selma, das hab ich gedacht.

- (Vater:) You were wrong.

- Hello, Mr. –

- Yes, it´s me. (Stomach ache!)

- No way, i couldn´t pay. Maybe i could try, to ... maybe the ... the 
fare ... fare ...

- Versicherung.

- Right, might pay. But the car doesn´t exist, so i don´t know ...

- Yes. (Streicht sich über den Bauch.)

- (Laut:) Wenn ich wüsste, ob er seine Ansprüche geltend machen wird oder nicht.

 

7

Am ABENDFLUSS flanierend geben alle vor, froh zu sein. Und das Licht glitzert hell, und der leichte Wind zaust am Haar aller. Und es sind nur Spielzeuge, die ich jetzt durcheinanderwerfe. Während (nein, das schreibst du nicht!), während in der Küche (nein, das kann nicht dein Ernst sein!), in der Küche (schreib das bitte nicht hin!) das Was-
ser (ich glaub´s nicht) ... gurgelnd abläuft. (Du lieber Himmel!)

 


 

USA

 

MILDRED und JAN, 12 Jahre alt.

15 Uhr. 

Rand eines Sandkastens.

 

MILDRED: Hallo.

JAN: Ja, guten Tag.

MILDRED: Du wirkst bedrückt.

JAN: Das kann man wohl sagen.

MILDRED: (wartet)

JAN: Du musst fragen – 

MILDRED: Also gut, was ist geschehen?

JAN: Sie wollen mich deportieren.

MILDRED: (schweigt)

JAN: (entzündet ein Streichholz)

MILDRED: Wohin?

JAN: In die USA

MILDRED: Was sollst du da?

JAN: Ich weiß es nicht.

         Zur Schule gehen.

         Es ist klar, sie wollen mich loswerden.

MILDRED: Die Schweine.

JAN: Der oberste Meister vom Stift sagt wörtlich, dass ich allen auf die Nerven gehe. Und mein Vater buckelt und sagt, ein Stiftsvorste-
her versteht seine Sache.

MILDRED: Sie haben Angst vor deiner Intelligenz.

JAN: Und sie wollen uns auseinanderreißen.

MILDRED: Glaubst du?

JAN: (böse)

MILDRED: (nachdenklich)

JAN: (abrupt) Fall mir in den Rücken!

MILDRED: (schaut dumm) Ich versuche, mir ein Bild zu machen.

 

Feldweg.

 

MILDRED: Was wirst du tun?

JAN: Ich werde mich spalten. Das ist klar abzusehen. Ich werde sa-
gen: Gut, ich bin euer Held. Aber die Seele werde ich ... hier irgendwo zwischen den Büschen ... begraben.

MILDRED: Das verstehe ich.

         Aber eine gute Idee ist es nicht.

JAN: Kommst du mit?

MILDRED: Das wird man mir nicht erlauben.

JAN: Und wenn ich zurückkomme, hast du dich in Sven verliebt und hängst mit ihm am Kiosk rum, sonnenbankgebräunt und mit Föhnwelle.

MILDRED: Quatsch.

 

Auto rumpelt über den Weg.

 

JAN: Der Pfarrer.

MILDRED: Mit dem Jugendgruppenleiter.

PFARRER: (aus dem Auto) Was ist los?

JAN: Ich werde deportiert. Man fürchtet mich.

PFARRER: Ich werde mit deinem Vater reden.

JAN: Auf dem Ohr ist er taub.

 

Später. 

 

MILDRED: Steht er immer noch nicht auf?

JAN: Nein, ich versuch es jetzt mit ganz harten Porno-Videos, aber es tut sich nichts.

MILDRED: Ich werde auch noch nicht richtig nass. Nicht so, wie die Literatur das vorschreibt.

JAN: Bei uns ist das Meiste anders.

         (eruptiv) Es geht darum, alles loszulassen ...

MILDRED: Ja, schon, aber ...

JAN:... und dann in dieser völligen Isoliertheit, ...

MILDRED: Das Wort zeigt aber doch ...

JAN:... trotzdem zu überleben.

MILDRED: Aber nimm einen Fisch. Wenn der – 

JAN: Das geht, und nur dann ist ... nur dann ist man frei.

MILDRED: Ich bin – 

JAN: Immer zieht etwas zurück, ins – Heimelige!

MILDRED: Das klingt, klingt – 

 

 

 

Seminar & Villa

 

1

Ich wohne dem Treffen der alten Männer bei.

Mein Vater präsidiert.

Ihr Diskurs ist sehr fragmentarisch. Da zückt den einen Moment der eine Alte, Herr Luchs, eine Broschüre und liest, mit dünner Altmän-
nerstimme, einen Abschnitt vor, „Seite 145, hier heißt es“, ihm ant-
wortet Schweigen. Dann – lang geschieht nichts – dreht sich der ande-
re Alte, Herr Borg, zu mir um, mit dem ganzen Oberkörper, denn den Hals kann er nicht mehr bewegen, murmelt etwas und sagt dann laut: „Sitzt immer noch auf dem Geländer!“

Tatsächlich sitze ich auf einer Stange, die den Garten, in dem die alten Männer ihren Tisch aufgebaut haben, gegen das Nachbargelände abgrenzt (das der Kirche gehört). Hier am Rand ist der Garten höher gelegen. So sitze ich auf meiner Stange zwar niedrig, bodennah, aber doch oberhalb der alten Herren.

Die insgesamt verdrossen wirken. 

Ich bin ganz vergnügt. Es ist angenehm, hier zu sitzen, keine Aufgabe zu haben und den Alten zuzuhören, die auf ihre Art streiten.

Mein Vater schaut ernst.

Jetzt kommt Fahrt auf, und auch ich bin plötzlich ganz angespitzt. Murrend, murmelnd und nickend verhandeln die drei die Entstehung des Schelmenromans. Aus den gesellschaftlichen Rahmenbedin-
gungen, die der Kollege Borg soeben noch einmal skizziert habe, habe der mittelalterliche Schelmenroman erwachsen müssen. Gut, gut!, denke ich aufgeregt. Aber aus denselben Rahmenbedingungen erwächst heute der moderne SEELENABENTEUERROMAN. Und 
der ist es, den ich schreiben will. (Helft mir, ihr Alten!, denke ich und lasse vor Freude einen Furz fahren.) 

Ich springe auf: „Und heute“, rufe ich, „erwächst aus diesen Rahmen-
bedingungen der moderne Seelenabenteuerroman!“ Dass ich ihn schreiben will, unterschlage ich. Aber auch so schon blicken die Alten (einschließlich meines Vaters) mich steif und missbilligend an. Ich er-
warte, dass sie mich darauf aufmerksam machen werden, dass diese Rahmenbedingungen heute ja gar nicht gegeben sind – statt dessen erfolgt ein ganz anderer Einwand: Die Sehnsucht fehle.

Ich bin überrascht.

Der Einwand erscheint mir ganz und gar unsinnig.

Ich vergrabe mein Kinn in die Hände, schließe die Augen und folge einem langen Gedankengang, der etwa so anhebt: Da die Sehnsucht prinzipiell als im Menschen verankert angesehen werden muss, ist gerade die Tatsache, dass sie zu fehlen scheint ...

Ich verliere mich.

Der Gedanke überfordert mich. 

Jetzt sehe ich auf.

Strahlenden Augs. (Stelle ich mir vor.)

Und: Hell erwartungsvolle Blicke sind mir zugewandt.

Na?

Ich öffne den Mund und – füge mich.

„Ja“, sage ich, „die Sehnsucht, das ist ein Punkt.“

Die drei nicken und wenden die Blicke wieder einander zu. 

Oder: richten ihn, wie gehabt, zu Boden. 

Scharren mit den Schuhen im Sand. 

Es war einfacher so. Ich bin mit den ALTEN HERREN nie gut gefahren.

 

2

Die Sonne steht tief.

Mein Vater sieht müde aus, senkrechte Linien zerfurchen jetzt sein Gesicht. 

Er erinnert in sachlichem Ton daran, dass das Seminar zu dem be-
kannten Termin an bekanntem Ort fortgesetzt werde. Die Leseliste sei verteilt. Man könne nie ausschließen, dass einer von ihnen unvermutet stürbe, aber bisher sei das ja auch nicht passiert, warum also nun, in den kommenden zwei Wochen. Keiner der drei wirkt von Eifer beseelt. Es ist, als ob sie ihr trocknes Brot kauen, weil es nun einmal dazuge-
hört und weil kein Lebewesen damit aufhören kann. 

Mir war nicht klar, dass es sich hier um eine ganze Seminarreihe han-
delt. Ich dachte, die Arbeit der drei ende hier und heute.

Ich klatsche in die Hände. 

Scheue Blicke treffen mich. 

Die Freunde meines Vaters reichen mir die Hand. Er selbst verstaut Papiere und schmale Bildbände in seinem Tornister. 

Er wirkt, ja, müde – und einsam. 

Ich habe ihn nie so gesehen. 

Ich frage mich, ob vielleicht er es ist, der diese Treffen einberuft, ja, erzwingt, weil er sie braucht, und dass dieGUTEN ALTEN FREUNDE mitspielen, weil sie, so verdrossen sie auch scheinen, doch freundlich sind. Sie haben Mitleid. Mein Vater wird aus Mitleid betrogen.

In der Ferne hören wir den Lärm eines Jahrmarkts. Und auch ein Rie-
senrad zieht jetzt meinen Blick auf sich. Das über den Häusern des Dorfs wie eine Erscheinung am Himmel steht und sich dreht.

 

3

Es ist dann meine Mutter, die mich, mitsamt Gepäck, zu meiner neu-
en Wohnstatt fährt, einer hügelaufwärts am Hang gelegenen kleinen Villa. 

Wie immer ziehe ich auch hier nur für einige Wochen ein – übergangs-
weise. Die Villa wird neu vermietet. Jetzt steht sie leer, und ich werde sie, natürlich, nur notdürftig möblieren.

„Hilf mir bitte, die Sachen reinzutragen“, sage ich zu meiner Mutter.

Sie ist dazu bereit. 

Drinnen schaut sie sich um. Ihr graust, aber sie ist so rücksichtsvoll, nichts zu sagen. 

„Ich finde doch immer wieder was“, sage ich gutgelaunt. „Hier ist es hübsch.“

Später sitze ich hier ganz allein. 

 

 

 

Johan

 

JOHAN: (kokett) Ja, mich wirst du so schnell nicht los.

IKE: Das scheint mir auch so.

JOHAN: (gleichgültig) Ja, ja, ich habe jetzt ein Kind.

IKE: Mit Antje.

JOHAN: Ja, sicher mit Antje. Mit wem denn sonst. 

IKE: Gibt ja noch andere Frauen.

JOHAN: Das ist für mich erledigt.

IKE: Wie ist das Leben mit Kind?

JOHAN: Das hat seine Tücken. Ich werde auch nicht schlau aus der Frau. Das ist wohl etwas Besonderes für eine Frau, ein Kind zu haben. Sie wird ganz unberechenbar. Jetzt fährt sie zum Beispiel häufig nach Berlin. Dann kommt sie zurück, und ich habe den Eindruck, sie ist da eine ganz andere geworden. Dann ist sie wieder hier – und wieder ist sie eine andere. Ich habe eigentlich nur noch mit Anderen zu tun. Antje anders hier, Antje anders da.

IKE: Aber hängt das nicht vielleicht damit zusammen ...

JOHAN: Ich weiß nicht, womit es zusammenhängt. Was soll in Berlin schon anders sein? (missmutig) Ich verändere mich ja auch nicht.

IKE: Sie stillt doch sicher noch.

JOHAN: Was?

IKE: Sie stillt doch noch.

JOHAN: Was weiß ich, ob sie stillt ... Ja, sicher, sie stillt.

IKE: Also, wenn sie hier stillt und, während sie in Berlin ist, nicht, dann erklärt das doch einiges.

JOHAN: Stillen hin, stillen her. Jedenfalls ist alles schwieriger geworden.

IKE: Wie heißt das Kind?

JOHAN: Wer. Das Kind?

IKE: Ja.

JOHAN: Neria.

IKE: Ich hab´s nicht verstanden.

JOHAN: (ärgerlich) Neria.

IKE: (wundert sich) Ob er das Kind überhaupt liebt?

JOHAN: (der nicht zugehört hat, mit plötzlicher Wärme, die nicht ganz echt wirkt) Aber hör mal, du! Du musst unbedingt die Zuversicht bewahren. Versprichst du mir das! Es wäre so schade um dich. Und warum auch nicht! Du hast die besten Voraussetzungen. Und du wirst dich immer auf Ronja verlassen können!

IKE: Meine Schwester?

JOHAN: Sie liebt dich, sie ist solidarisch. Sie kann gar nicht anders. Das liegt ihr im Blut. Sie hat dich ja schon als kleinen Jungen im Arm gehalten und beschützt. So etwas verliert man nicht. Das steckt drin. Ich finde das so schön.

 

JOHANs Gesicht füllt das ganze Filmbild.

 

IKE: Alles voll mit ihm. Das gesamte Gesichtsfeld.

 

Und noch einmal! JOHANs Gesicht im Bild, quillt auf bis an den Rand und über den Rand hinaus.

 













 





 

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