Quittsein I: Kinderliebe (12 Storys)

  

 

Christian Fries
Quitt Sein I: Kinderliebe 
12 Storys


 

Kinderliebe

 

Elise ist verheiratet. Mit Jens. (Den ich nicht mag.)

Elise hat zwei Kinder.

Sie erklärt uns, was es bedeutet, Kinder zu haben.

Was für eine Art Liebe es ist, die sie mit ihren Kindern verbindet. Die eine Mutter mit ihren Kindern verbindet.

Eine Mutter würde sich für ihr Kind vor einen Zug schmeißen. (Sie wählt dieses Beispiel.)

Würdest du dich für sonst niemanden vor den Zug schmeißen. 

Nein.

Wir sind verblüfft.

Wir haben keine Kinder.

Wir schweigen. 

Ich sage (dann): „Das Umgekehrte gilt auch. Kinder wollen sich für ihre Eltern vor den Zug schmeißen.“

„Nein“, sagt Elise. 

„Später nicht mehr, aber so lange sie sehr klein sind, wollen sie das, und würden das jederzeit tun. Später nicht mehr. Später haben ihre Eltern ihnen das ausgetrieben. Einfach, indem sie sind, wie sie sind. Da schmeißt sich niemand mehr vor irgendeinen Zug, das ist klar. Aber als kleines Kind. Jederzeit! Ich erinnere mich genau. Ich hätte mich jederzeit für meine Mutter vor den Zug geschmissen, ich hätte mich GEOPFERT.“

Jeder überlegt.

„Deshalb“, füge ich hinzu (und schau Karlotta an), „deshalb müssen wir nicht neidisch sein, wenn Elise von dieser Liebe spricht, von dieser ungeheuren Liebe. Wir haben diese Liebe auch gehabt, wir haben sie in uns.“

„Wenn das Kind da ist, hat der Mann ausgedient“, sagt Elise noch. Es macht nicht den Eindruck, dass es sie etwas kostet, das zu sagen. Es ist selbstverständlich.

 

 

 

Das Päckchen

 

Ich bin gelöster Stimmung. 

Ich wasche mir mit einem Stück Seife, das ich am Nachmittag eigens erworben habe, die Hände. Ein angenehmer Duft! (Ich benutze so etwas sonst nicht, Kernseife genügt.) Auch das lauwarme Wasser fühlt sich angenehm an, wie es weich zwischen den Fingern hindurchrinnt.

Und nun sitze ich – gelöster Stimmung! – auf dem Korbstuhl hinter der Flügeltür. Hier in der Ecke, wo die Sonne hereinblinzelt, fühle ich mich verschämt und meiner Sache sicher zugleich, geborgen, ja, angenehm auch dieses Dasitzen! –  und ich öffne das Paket, das meine Mutter mir geschickt hat.

Ich freue mich, dass sie trotz vorgerückten Alters – sie wird in wenigen Wochen 96, wer hätte das je erwartet! – in der Lage ist, ein solches Paket zu schnüren. Sie hat ein paar Knoten mehr geknüpft, als not-
wendig gewesen wären, aber wer wollte ihr das ankreiden?

Ich seufze. Das Leben ist schön.

Ich löse jeden Knoten einzeln.

Das habe ich von meinem Vater gelernt. Nein, es geht nicht darum, Kordel zu sparen. Es ist diese kleine knifflige Aufgabe, um die es geht – ihm damals ging und auch mir jetzt geht. Dieses meditative Spiel. Ich sehe die ungleichmäßig gewölbten, rissigen Fingernägel meines Vaters vor mir, „der Krieg!“, denke ich – während ich nun mit den eigenen Fingernägeln an den vertrackten Knoten zupfe, die meine Mutter zu Stande gebracht hat. Ich schüttel freudig den Kopf: Wie nur!

Und nun –  da ich zuletzt die Knoten habe lösen können, was mich mit verhaltenem Stolz erfüllt! – enthülle ich die verschiednen Gegen-
stände, die sie mir geschickt hat. Ich falte das rosa getönte Seiden-
papier auseinander, in das sie die Dinge eingewickelt hat. Hier haben wir ein kleines Puppenhaus aus Plastik – ich weiß schon, das ist das Heim, in dem wir sie untergebracht haben. Ein quadratischer Bau, in freundlichem Gelb gehalten. Wie naturgetreu das Modell das Heim nachbildet, und hier steht: Maltheserstift St. Bonifatius. Ich nicke anerkennend und stelle das kleine Haus auf das Tischchen neben mir.

Ich bin neugierig, was ich weiter finden werde!

Hier nun: ein Püppchen, ein junges Mädchen mit einem Ranzen auf dem Rücken. Und wie sorgsam die Mutter das Püppchen mit kräftigem schwarzem Garn umwickelt hat! Ich hätte ihr das – muss ich sagen – nicht mehr zugetraut. Die Fingerfertigkeit, die Sorgsamkeit! Da ist dieses Püppchen, dieses garngefesselte Etwas. Ja, ich verstehe dich schon, Mütterchen. Hau´s mir nur um die Ohren! (Ich lächle leis´.) Es ändert doch nichts daran, dass ich gelöster Stimmung bin.

Einen Moment lausche ich den Klängen des Radios. Ist das nicht die Kunst der Fuge? Welch wunderbares Stück! Oh ja, ich erkenne es. Contrapunctus 9. 

Rectus oder inversus? Ich muss hell auflachen.

Rectus, denke ich. Ganz sicher: rectus.

Und wer spielt?

Mutter würde sich freuen.

Ich stelle das Püppchen neben das Modell des Maltheserstifts. Das milchige Gelb und die orange-fleischliche Farbe der kleinen Schul-
besucherin ergänzen sich aufs Beste. Bravo!

Ich bin gespannt, was den Inhalt des dritten Päckchens betrifft. Und als hätte ich es geahnt, stoße ich ein kraftvolles „Ja!“ aus, als ich ihm die zusammengerollte Fotografie des städtischen Friedhofs an der Taubengasse entnehme. Geschickt hat Mutter ihren eigenen Namen auf einen zwischen schönsten Frühlingsblumen hervorlugenden flachen Grabstein appliziert. Da steht es: Hilde B---. Einen Moment stutze ich, dann denke ich (und schüttle erneut den Kopf über ihre subtilen Hinweise): Sieh an! Das ist ihr Mädchenname. Das gefesselte Mädchen hat demnach in Wahrheit nie geheiratet und nie ein Kind geboren. Und insofern – ich lache: gibt es mich gar nicht! Dann aber weine ich, denn in der Summe ist Mutter nun also tot. 

Stille senkt sich.

Draußen fällt Schnee.

Trotzdem hat sich der Frühling bereits angekündigt.

Vater ist Gerippe.

Mutter legt sich bald daneben.

Dann bin ich frei. 

 


 

Feuerzangenbowle und dann doch nicht

  

Der Weg von der Straßenbahnhaltestelle hinunter zur Schule.

Zu spät.

Ich habe nicht auf die Uhr gesehen (die am Klöcknerhochhaus). Ich weiß, dass ich zu spät bin, weil die Buchhandlung an der Ecke bereits geöffnet ist. Wäre ich rechtzeitig, wäre sie noch geschlossen.

Ich bin nicht der Einzige.

Drei andere.

Bock von links kommend, Butterbrot in der Hand (und teils im Mund). Er wirkt nicht grad alarmiert.

Der zweite, das ist der neue aus der Klasse über mir. Kenne ich nicht näher, wirkt, als falle alles, was geschieht, in ihn hinein, aber nie kommt etwas heraus.

Der dritte ist Karli.

Er ist der einzige, der etwas sagt: „Auch zu spät“, sagt er – oder fragt er? Ich weiß es nicht.

Philosophieunterricht bei Resch.

„Vier Minuten zu spät ist zu spät.“

Nun weiß ich, dass wir vier Minuten zu spät sind.

Und ich weiß auch, was er (darüber hinaus) meint.

Kommst du bei Wesser zu spät, bist du zu spät, aber doch nicht zu spät, um am Unterricht teilzunehmen. Er wird dich nicht lieben, diese frühe Stunde lang, aber er käme nicht auf die Idee, dich nicht herein-
zulassen. (Schon allein, weil es draußen und auch im Flur kalt ist.)

Bei R. = Resch ist das anders.

„Das letzte Mal hat sie mich nicht mehr reingelassen“, sagt Karli, 
es ist nicht ganz klar, ob er sie dafür hasst oder bewundert. Ob er es lächerlich findet oder konsequent.

„Wie findest du das?“, fragt er, während ich überlege, wie ich selbst es finde.

Ich sage: „Sie schläft mit meinem Vater, ich habe keine Meinung dazu.“

Er nickt.

Jeder weiß, dass sie mit meinem Vater schläft.

Ich laufe neben Karli her. Ich versuche zu erspüren, ob er – aus 
Angst, sie könne ihn auch dieses Mal nicht zum Unterricht zulassen (warum ist es ihm so wichtig?) – seine Schritte beschleunigt, ob er insgesamt überhaupt eine schnellere Gangart an den Tag legt als sonst. Ich kenne Karli ziemlich gut, vor allem körperlich, was damit zu tun hat, dass wir uns ja schließlich seit endlosen Jahren tagaus, tagein begegnen, dass wir Sportunterrichte, Konfirmandenunterrichte, Theaterunterrichte miteinander teilen, dass wir einander beim Großwerden zugeschaut haben, was ja ein wirklich grotesker und überhaupt nicht angemessen zu würdigender Vorgang ist, natürlich haben wir in dieser Zeit auch Worte getauscht, und einander, wo es ging, beleidigt, beschimpft, bekleckert, aber wenn wir eins aneinander kennen, so ist es nicht der Geist, sondern der Körper, vom dauernden Zuschauen und Spiegeln, und insofern bin ich auch in der Lage, seiner aktuellen Gangart anzumerken, ob es sich um eine besondere handelt – aber mir fällt nichts auf.

„Hast du Angst, sie lässt dich wieder nicht rein?“

Karli nickt. „Es ist demütigend.“

Ach so.

„Und du?“

„Sie schläft mit meinem Vater, ich kann mir alles leisten.“

„Komisch“, sagt Karli, „meine Mutter schläft auch mit meinem Vater, deshalb kann ich mir bei ihr durchaus nicht alles leisten.“

Ich überlege eine Weile, wo der Fehler in der Argumentation steckt, aber ich gebe es auf, als wir an der Ampel ankommen. Und in Ge-
spräche verwickelt werden.

„Tag“, sagt Bock, spuckt dabei ein paar Brotbröckchen aus dem Munde raus, weil Sprechen Ausatmen heißt. „Bei wem kommt ihr zu spät?“

„R. = Resch.“

„Da würd ich mich aufhängen.“

„Haben wir vor. In der Dachkammer.“

Später bin ich in der Dachkammer.

Karli seinerseits hat, all seine Ängste überwindend, einen Versuch gemacht, zum Unterricht zugelassen zu werden. So weit ich es vom Flur aus sehen konnte, ist er in Gnaden aufgenommen worden. Die Tür ging auf, man hörte drinnen einen Luftballon platzen (vermutlich ihre Stimme), und er ging hinein, nein, tanzte hinein! (Wenn Karli tanzt, ist er unausstehlich!) Nicht mal heimlich zu mir hingewinkt hat er. Na, Gott befohlen. Wer sie sieht, ist in Bann geschlagen. Nicht wahr? (Vater inklusive.)

Ich, der auf dem Dachboden, mit dem Strick in der Hand.

Guter Ort.

Bedeutsam.

Mach´s, oder lass es.

Ich finde keinen Dachbalken.

 

Gaaaaaaaanz tief unten, im Kääääää-ler, aber das ist laaaaaaaaang her, da sitzt mein Vaaaaaater, so jung, ach Gott, wie jung, schau mal, er hat noch alle Haare (oben und unten), und noch gar keine Zitzen, wie er sie später dann hatte, auch Männer haben Zitzen – sieh mal!, und da schreibt er etwas auf eine Kartaaaaaaaaikarte, denn er hat die Bibliothek unter sich, und er ist der gaaaanz jungjungjunge Refferen-
darr, der hier die Bibliothek übernommen hat, und sie behühnert, und das ist der richtige Ausdruck, denn er sitzt ja förmlich drauf auf der Biblio-Biblio-Biblio-theeeeeek. Bebrütet sie. Ei, was mag da aus-
schlüpfen! Was für ein Kind. Für ein Kind mit dem Strick in der Hand. Und es war eine schöne Zeit, wenn er mich mitnahm. Dorthin. 

 

 

 

Urhaus 

 

Im Hof. Unter dem Walnussbaum.

 

ICH: Mutter? Ich bin da.

MUTTER: Schön. Was hast du da.

ICH: Das ist mein Kind. Gefällt es dir.

MUTTER: Dein Kind.

ICH: Ja.

MUTTER: Zeig mal. 

ICH: (zögernd) Hier, ich nehme mal die Decke beiseite.

MUTTER: Da ist sicher gar kein Kind.

ICH: (ärgerlich) Natürlich. Sieh doch.

MUTTER: Ach ja, es sieht einem Kind schon recht ähnlich. 

         Dizzidizzidizzidumm ...

         Gib mal.

ICH: Willst du es in den Arm nehmen?

MUTTER: Ja, sicher will ich das. Es ist mein Kind.

ICH: Dein Enkel.

MUTTER: Ja. Komm mal her.

ICH: (gibt MUTTER das Kind)

MUTTER: Ach, komm mal her ... Ja, so ... Na, schau mal! ... So was ... (schaukelt das Kind) Das ist ein schönes Kind.

ICH: (stolz) Nicht wahr?

MUTTER: Wenn das einmal groß ist!

ICH: Erst einmal ist es klein.

MUTTER: Höppekrötsch.

 

MUTTER wendet sich ab, geht auf das Haus zu.

 

ICH: Halt! 

MUTTER: Was ist?

ICH: (drohend, zitiert sie mit dem Zeigefinger zu sich) Gib das her.

MUTTER: (schaut ihn lang an) 

ICH: (nimmt ihr das Kind aus dem Arm)

 

MUTTER verschwindet im Haus.

Es ist das Haus, in dem sie geboren wurde.

 

ICH: (tritt ans Fenster) Ich sage euch, was ich sehe.

         Es ist dunkel.

         Ich weiß nicht, wo meine Mutter hin ist.

         Ich sehe, dass der Boden aufgerissen ist. Es fehlen einige Bohlen. Wo sie fehlen, geht es in die Tiefe. Ich kann nichts erkennen. Die Möbel sehen aus, als seien sie seit Jahren nicht benutzt. Das Radio, das ich sehe, ist ein Grundig aus den 50er Jahren.

         (zum KIND) Komm!

         Ich gehe zögernd den Weg zum Tor hinunter.

         Ich weiß nicht, ob ich je wieder hierherkommen werde.

         Ich weiß nicht, ob ich meine Mutter je wiedersehen werde.

         Aber ich habe mein Kind gerettet.

         (zögernd) Ich habe mein Kind gerettet.

 

 

 

Monning!

 

Wir sitzen zu viert an einem Tisch im Vestibül des Hotels und pokern. C., meine Schwester, verliert jedes Spiel. Sie deutet, wenn sie verliert, durch eine entsprechende Geste an, dass sie jetzt ein Kleidungsstück ausziehen wird, als „Bezahlung“, wir Brüder stimmen einen Männer-
chor an: „Ho-ho-ho-ho-ho!“ Aber dann heißt es doch nur: „Nächste Runde.“

Wir zucken die Achseln.

Busenstarke Kellnerinnen servieren.

Die Stunde ist fortgeschritten.

„Es gibt ein WIR“, sagt mein ältester Bruder. Ausgerechnet er, von dem überliefert ist, dass er sich über die Familienstruktur folgen-
dermaßen geäußert hat: „Erst komme ich, dann lange nichts.“

Dieses WIR, sagt er jetzt, sei immer in Gefahr, durch individualistische Tendenzen, durch ALLEINGÄNGE zerstört zu werden.

Ich rauche.

Er meint ja gar nicht mich. 

Er meint meine Mutter.

Die jetzt aufsteht und den Raum verlässt.

Seit mehreren Tagen geht sie nachts aus. Gegen 22 Uhr beginnt sie, sich vor unseren Augen zurechtzumachen. Sie wechselt, hier im Vesti-
bül, die Kleider, zwängt sich in einen engen, schwarz-glitzernden Fum-
mel, schminkt sich, nicht dezent, bewegt die Lippen gegeneinander, um den Lippenstift zu verteilen, steckt eine Packung Zigaretten („Eve“) in ihre ebenfalls schwarz-glitzernde Handtasche und steht gegen 23 Uhr auf, um zu gehen.

„Wieso wollt ihr wissen, wo ich hingehe!“, sagt sie ungehalten, als wir sie diesmal an der Tür stellen. „Das geht euch gar nichts an.“

Wir versuchen es mit unterschiedlichsten Druckmitteln. Mein ältester Bruder ruft: „Das geht mich schon was an, wenn du nachts das Erbe durchbringst!“ Nicht viel fehlt, und er schlüge ihr ein blaues Auge. Aber natürlich weiß er, dass das Geld ihr gehört, und sie weiß es auch. (Ihr gehört ja sogar das Hotel, in dem wir sitzen, trinken, pokern. Ha! 
Merk´s dir!)

Meine Schwester (Cornelia) versucht es auf die sanfte Tour, die kindliche. „Das wird die Mummi-Mammi uns doch sagen!“ 

Mummi-Mammi, sagt Mammi, sagt gar nichts. Und ihre Stimme ist kalt, dass es uns am nackten Boden festfriert.

Mein zweiter Bruder, Ansgar, wendet das Blatt gegen uns. „Ich seh das wie Mutter“, sagt er hämisch, mit einem Full House in der Hand. „Besitz ist unanfechtbar.“ Das nützt ihm aber gar nichts. Ich sehe Mummi-Mammi, meine Mutter, vor sich hinmurmeln, und als ich das Ohr lang mache, höre ich: „Du halt den Mund, fettleibig, wie du bist. Solche Leute kommen im Leben nicht voran.“

Ich bin anders.

Ich verdrück mich auf die Hoteltoilette.

Durchs Fenster steige ich aus. 

Ich pfeif ein Taxi herbei. Dann folge ich meiner Mutter, die inzwischen im Airport-Shuttle Platz genommen hat. Das Gefährt ist für zwanzig Leute ausgelegt. Sie sitzt allein auf Platz neun, mitten in dem hell erleuchteten Kleinbus, und zieht die Lippen nach. Der Fahrer, ein geduldiger Mann um die 70, der ihr gern einen Gefallen tut, dreht an dem riesigen Lenkrad, sie heben ab. „Denen nach!“, sag ich sachlich.

 

So finde ich heraus, wo Mutter sich nachts herumtreibt. Im BALL DER EINSAMEN HERZEN, an der Monning. Da fährt die Linie 2 vorbei, die Duisburg mit Mülheim verbindet, und da begann einstmals, als ich klein war, die Fremde.

„Monning!“, sage ich, als ich erschöpft ins Hotel zurückkehre. (Den Weg zurück bin ich gelaufen, quer durch den Wald.)

„Monning!“, antwortet der Portier freundlich. „Und ein guter Monning sei´s!“

 

 

 

Groß / Klein

 

1

Vom Wald her, die Straße, die Am Botanischen Garten heißt, herab-
kommend, nähere ich mich dem Haus, in dem ich meine Jugend verbracht habe. Neben mir geht, sehr leise, fast unhörbar, H., meine Freundin, die ich sehr liebe, ja, die meine ganze Liebe hat, eine freudvolle Person und so hell, so leicht. Und dann wieder innig. Jetzt ist sie einfach eine junge Frau in Jeans, die nicht viel Aufhebens von sich macht, die mitgeht,wo ich gehe. (Und vielleicht auf mich aufpasst, was denkst du?)

Ja, wir kommen aus dem Wald.

Und wir gehen hier im Dunkeln. Auf das erleuchtete Haus zu. 

Ich bleibe stehen. Ungefähr da, wo Menkes gewohnt haben. Eine Familie, an die ich mich nicht mehr erinnern kann. An ihren Namen schon.

Bleib stehen!, sage ich.

Ich spüre H. dicht hinter mir.

(Sie trägt einen Schuh in der Hand, sie hat sich eine Blase gelaufen.)

 

2

„Das ist mein Vater.“ Im ersten Stock. 

Er steht zwischen meinen Brüdern, ein Buch in der Hand.

Er sieht über das Buch hinweg in die Finsternis des Waldes hinaus. Also in unsere Richtung. 

„Und das sind meine Brüder.“

Alle haben dunkle, fast schwarze Haare.

Nur ich bin grau.

Mein Blick wechselt in die zweite Etage.

Dort sitzen viele Menschen an einer schräg stehenden, langen Tafel. Eine Hochzeit! Ich sehe meine Mutter unter den Gästen. Wie immer hat sie ein Bein über das andere geschlagen, die Hände vor dem Knie verschränkt. Sie hört der Frau zu, die neben ihr sitzt. Frau Richter, die Frau des Pfarrers. 

„Ich bin sehr froh, dass du bei mir bist.“

Ich spüre, wie H. mir die Hand in den Nacken legt.

In der dritten Etage wird Geburtstag gefeiert.

„Und was jetzt“, sagt H., „klopfen wir an?“

Ich schüttel den Kopf.

Dort kennt mich niemand mehr.

Jetzt wird mir bewusst, wie ungewöhnlich hell es aus allen diesen Wohnungen herausstrahlt. Ja, die ganze Vorderseite des Hauses ist illuminiert, und mir ist, als ob in diesem Licht ein Zeichen mitschwingt.

„Siehst du das“, frage ich.

Aber ich weiß nicht, ob H. nickt. Sie sagt nichts, ich spüre keine Bewegung.

„Ein Zeichen.“

Es bleibt aber doch ganz unklar, was für eins. Und wofür.

 

3

Ich sehe auf meine Schuhe hinab.

Schwarz, vorn an der Kuppe abgeflacht.

Insgesamt: flache Schuhe.

Stehen neben dem Bett.

Ich schlafe schlecht. Als hätte ich getrunken. 

Habe ich aber nicht. Die harte Matratze quält mich.

Ich denke an die Insel, auf der wir gewesen sind.

An den Strand. Das Licht über dem Meer.

H. dreht sich zu mir.

Ihre weit geöffneten Augen sehen nichts.

H. ist nicht meine Freundin, sie ist Johns Freundin. 

Sie ist schwanger von ihm. 

Was macht sie hier!

Ich schiebe mir das dunkle Unterhemd übers Gesicht. Der Morgen ist weit.

 

4

Herr Ingenhoff.

In hora mortis.

Was?

I – O. 

In(gen)ho(ff). In ho(ra mortis).

Ich schrecke auf.

Ich sehe den Mann klar vor mir, wie er neben mir am Steuer sitzt. Er fährt mich nach Hause. Er sagt kein Wort. Ich rede: Ich bringe Ihrem Sohn bei, was der nicht kann, ich aber kann es. Ich bin ein verflucht guter Schüler, aber das heißt ja nicht, dass ich Ihrem Sohn irgend-
was beibringen kann. Ich habe kein Geld, also: meine Familie hat keins, Sie schon; deshalb sitzen Sie da so schweigsam (am Steuer) und schmauchen ihre Pfeife. Sie haben das Geld, aber ich muss Sie regelmäßig bitten, an die Bezahlung zu denken. Ich komme ja nicht für lau, und brülle Ihren Sohn nicht für lau an, wenn er die mathemati-
schen Aufgaben nicht zu meiner Zufriedenheit gelöst hat. Wir spielen ein bisschen Tischtennis, nach der Stunde, wenn Ihrem Sohn R. danach ist. Wenn nicht, geh ich so nach Hause, abserviert. Ich bin erfolglos, was die Nachhilfe betrifft, die letzte Arbeit war eine 5. Ich bin aber doch nur der Mitschüler Ihres Sohns

In hora mortis.

In hora vitae, setze ich dagegen.

Ich wünschte, H. wäre wach.

Schläfst du?

Ihr Herz rast, ich spür´s. Was sie wohl träumt!

Herr Ingenhoff zu mir: „Du bist eine kleine Fotze, die hier überhaupt keine Bedeutung hat.“

 

5

Ich habe einen Auftrag bei der Pharmafirma Lindhorst zu erledigen. Hinter einer Glasfront im Foyer sitzen drei Frauen. Ich melde mich an. Mein Name wird abgeglichen. Kommen Sie mit mir, Herr Lindhorst. Was? Falsch verstanden. Korridor. Um eine Ecke. Warten Sie hier! Neben einer Garderobe. Jetzt tritt eine weitere Frau aus einer Tür. Sie wirkt wie eine sehr schlechte Schauspielerin. Sie tritt an mich heran, hält einen Zettel vor die Brust und sagt, fast, als läse sie ab: Herr Fitz ist gestern gestorben. Ich bin frappiert. Ja, dass Herr Fitz gestorben ist, ist ein Fakt, der mich angeht! Herr Fitz ist derjenige, mit dem ich hier zu verhandeln habe! Herr Fitz, niemand sonst! Wir werden uns eine Lösung für Sie ausdenken, sagt die Frau jetzt – wobei sie nun ganz offen von dem Zettel abliest. 

Worin könnte die bestehen?

Sie könnten ... die Stelle von Herrn Fitz übernehmen. 

Ich wundere mich nicht. 

Mit einer solchen Möglichkeit habe ich gerechnet. 

Ich sage: ich werde darüber nachdenken. 

Bei einer Flasche Wein.

Aber insgeheim ist es so, dass mir der Tod des Mannes Fitz ein Zeichen dafür ist, dass ich diese Richtung (Fa. Lindhorst) nicht verfolgen sollte. Ja, dass ich in der falschen Richtung suche.

Ich kehre in den Eingangsbereich zurück.

Die drei Frauen hinter Glas sitzen, scheint mir, noch höher als vorhin. Wie sie auf mich herabschauen! Aber doch, als wollten sie sagen: wir schauen vertrauenerweckend intim. 

Ich verachte die Managertypen, die mich umgeben.

 

6

Ich sehe Kinder, deren Gesichter aufgenähte Masken sind.

Was ist darunter?

Das Blau des Himmels, sagt jemand.

 

7

Gut, ich bin all dem entkommen. 

Mein Vater ist tot. Und H. schultert soeben ihren Rucksack.

Ich sehe sie am Strand tollen, mit nackten Füßen vornan im Priel. Wie sie mir die Augen zuhält und ruft: Wie viele Seehunde siehst du!

Ich bin so traurig, dass ich nicht tollen kann. Ich trage ein Korsett, wegen sechs gebrochner Wirbel im Brustbereich. 

Das wird heilen, alles wird.

Bin ich dann noch derselbe?

Warum willst du derselbe sein!

H. wechselt die Schuhe. „Scheiße“, ruft sie laut.

Auf der Insel haben wir die Unterkunft gewechselt. Weil vor dem Haus, in dem wir gebucht hatten, eine Baustelle lärmte. Die Straße wurde aufgerissen! Ich hielt der alten Vermieterin, die uns einseifen wollte, indem sie erzählte, sie habe einmal, vor langer Zeit, in M--- studiert (wo ich herkomme), die Knarre an den Schädel und leierte ihr die Anzahlung aus dem Kreuz.

Wir verwischten die Spuren.

Wir wohnten woanders.

Wir hatten es fünf Tage lang gut.

Der Wind von Westen, wie immer.

In einem nahen Kinderheim Kinder, viele mit freudlosen Gesichtern. Aber das ist ja nur aufgenähte Maske, mit blauem Himmel dahinter.

H. tritt aus dem Haus, winkt.

Ich denke über die FREUDEN DES ALLEINSEINS nach. Wir hatten am ersten Tag auf der Insel ein Beziehungsgespräch. Trennung stand im Raum. Es ist doch auch alles verquer! Da hat sie dieses Kind von John im Bauch. Und ich bin so rasend verliebt. Und sie dreht sich vor Not so schnell um sich selbst, dass sie keinen Rücken mehr hat. Nur zwei Gesichter, eins nach vorn raus, eins nach hinten. Frau Spenne-
mann, die uns beide psychotherapeutisch betreut, jeweils im Einzel-
setting (ein Nogo, klar), sagt, es komme nur darauf an, sich zu entscheiden und die Konsequenzen auf sich zu nehmen. Wollen Sie lieber allein sein, dann entscheiden Sie sich dazu! Aber ich werde immer wieder in diese Liebschaften hineinrennen. 

Niemand Rechenschaft schulden. Niemandem dankbar sein.

Jetzt ist H. weg.

Nun alles keine Frage mehr. 

Weg.

Ob in der Wohnung der Schimmelpilz herrscht?

Hausstaub, denke ich.

Blei in der Wasserleitung.

Ich habe darauf gewartet, dass H. endlich weg ist, damit ich mich befriedigen kann. Aber als sie weg ist, liege ich unerregt auf dem Bett, den schlaffen Schwanz in der Hand, und denke an die Momente, als wir auf der Insel die Gepäckstücke, die wir grad erst abgestellt hatten, wegen der Baustelle wieder aufnahmen. 

 

 

 

Scheiße in der Dusche

 

1. Scheiße in der Dusche 

- Das kann ich nicht glauben.

- Es ist aber so. Jeden Morgen hole ich aus der Dusche kleine Scheißklümpchen. 

- Sie wird doch nicht in die Dusche scheißen.

- Ich weiß nicht, was sie macht.

- Hast du eine Vermutung.

- Inkontinenz. 

- Inkontinenz.

- Was soll es sonst sein. 

- Du meinst, sie scheißt unter Tags in die Hose und wäscht sie am Abend aus.

- Was weiß ich.

- Wann zieht sie aus.

- Ende des Monats.

 

2. Lärm von draußen

- Hast du was dagegen, dass ich das Fenster schließe.

- Ich habe was dagegen.

- Es ist sehr laut.

- Es ist nicht laut.

- Dieses Haus liegt an der Südtangente. 

- Das weiß ich.

- Natürlich weißt du das. Du hast den Mietvertrag unterschrieben.

- Ich finde es nicht laut.

- Du hast dich daran gewöhnt.

- Gewöhne dich auch dran.

- Ich friere am Kopf.

 

3. Pissen beim Geschlechtsverkehr

- Das habe ich immer gewollt.

- Das ist lustig.

- Lustig findest du das.

- Ja.

- Ist es dir zuwider.

- Nein. Aber es macht mich auch nicht an.

- Aber mich.

- Das vermute ich.

- Ich darf nicht vergessen, es aufzuwischen.

- Sonst tritt die Frau, die in deine Dusche scheißt, in deine Pisse.

- So ist es.

 

4. Trauer

- Bis zur Erdbeerbrücke sind es zehn Minuten. Reicht die Zeit aus, um mir zu erklären, warum du uns keine Chance gibst.

- Natürlich reicht das aus. 

- Bitte.

- Du möchtest herausfinden, wie ein Zusammenleben möglich ist. Sollte es sich schwierig gestalten, willst du neue Wege gehen. Du hast Lust zu diesem Experiment. Ich nicht. Das ist alles.

- Du bist herzlos.

- Und was noch schlimmer ist: ich könnte nach und nach die Kraft verlieren, mich zu wehren. Dann hast du einen halben Mann und merkst es nicht.

- Das würde ich merken.

- Du würdest es merken, ja. Deshalb ist so vieles möglich mit dir, was nicht möglich war.

- Aber es geht nicht weiter so.

- Wir werden uns trennen müssen.

- An der Erdbeerbrücke.

- So bald.

- Warum nicht.

- Wenn wir die Kraft dazu haben.

 

5. Verabredung

- Wir könnten zwei Wochen miteinander verbringen.

- Das ist mir zu lang.

 

6. Aussprache

- Ich habe mich bereits von dir entfernt.

- Ohne es mir zu sagen.

- Ja.

- Und wie viele Kilometer hast du bereits geschafft.

- So etwa 7,5. Weit genug, um nicht mehr mit dir zu schlafen.

- Wir haben diesen Morgen miteinander geschlafen. Und gestern Abend. Und gestern Mittag, als ich kam. Auf dem Tisch, stehend auf der Treppe und beim Spaziergang im Regen auf der Bank am alten Weiher.

- War das so.

- Ja.

- Dann hast du mich offenbar wieder rumgekriegt.

- Eine leichte Übung.

- Irgendwann ist es damit auch vorbei.

- Das ist immer so.

- Ich wollte es nicht glauben, aber es zeichnet sich ab.

- Du hättest mir sagen können, dass du dich von mir entfernst.

- Das war meine ganz individuelle lebensrettende Maßnahme.

- Wie hast du das gemacht.

- Ich habe geweint.

- Das meine ich nicht.

- Was dann.

- Welche Maßnahme hast du ergriffen. Wie bist du vorgegangen.

- Maßnahme. Wie bin ich vorgegangen.

- Ja.

- Wenn ich dich innerlich vor mir sah, habe ich einen schwarzen Balken davorgerammt.

- Das meinte ich.

- Dachte ich in Farbe an dich, habe ich auf schwarz/weiß gestellt.

- Geschickt.

- Wenn ich deine Stimme hörte, habe ich ein Unwetter herabbeschworen, dass es nur so krachte. Da habe ich nicht mal mehr die Ratschläge vernehmen können, die meine Mutter mir auf den Weg gegeben hat, als ich jung war.

- Was waren das für Ratschläge.

- Wenn ich sexuelle Erregung verspürt habe, habe ich´s so rasch erledigt, wie´s irgend ging.

- Schade drum.

- Das waren meine Maßnahmen.

- Sie haben geholfen.

- Ja.

 

7. Beleidigung

- Dass du ein guter Klavierspieler bist, interessiert mich nicht mehr.

- Was interessiert dich.

- Hast du angenommen, dass du mich interessierst, weil du ein guter Klavierspieler bist.

- Ja.

 

 

 

Laufprotokolle 3 / 37 (Ausschnitt)

 

1. Arbeitsangebot

„Ohne Arbeit geht´s nicht.“ Ich trage den Anzug in die Wohnung, hinter mir Henriette gähnt und schleppt sich. 

„Ich bin so matt“, sagt sie.

„Das wird sich geben“, sage ich und lange nach ihr. 

Dann sind Stunden vergangen. Wie das immer geht.

(Keine weitere Zecke.)

„Arbeit“, sagt sie plötzlich (erwacht, Blick auf die Uhr). „Ich hätte gern weniger davon.“ 

„So ungleich ist es verteilt.“

Mir fällt ein, dass ich den Anrufbeantworter habe blinken sehen. „Ruf mich mal an, ich habe einen Vorschlag.“

Da kommt die Arbeit.

„Das Konzept“, sagt Jan (als ich ihn zurückrufe), „sieht vor, dass die Musik dem Theaterereignis vorangeht. Also eine Umkehrung der üblichen Verhältnisse. Das Thema heißt: Making Gold. Die Musik ist bereits komponiert. Drei Regisseure sollen etwas daraus machen. Du wärst einer.“

Ich frage nach den anderen.

„Konkurrenz muss ausgehalten werden.“ Er lacht nicht. „Ihr könnt die Musik nach Belieben umarbeiten, zerhacken. Jedem das seine. Zeitdehnung, Zeitraffung.“

„Zeitraffung, immer Zeitraffung!“

„Mit Texten kombinieren, wenn du willst. Gelegenheit für Experimente.“

Kurzfristig, natürlich.

„Making Gold“, sage ich. „Aus Scheiße Gold machen. Der Alltag und seine Eignung zur Kunst.“

„Zum Beispiel“, sagt Jan. „Ich habe auch Textmaterial über die Alchemie. Vielleicht kannst du deine Gruppe an den Start bringen. Geld gibt´s, aber nicht viel.“

Henriette sieht mit kleinen, blanken Augen zu mir herüber.

„Beschämend, dass ich mich bereits über dürftigste Nischenprojekte freue“, sage ich, als ich mich zu ihr lege.

„Erklär mir das noch mal.“

„Was?“

Das (worüber wir im Auto auf der Rückfahrt nach M---, in Anlehnung an Geschwistergespräche im Garten meiner Mutter, debattiert haben): dass es besser sei – das war meine Meinung – , mit Formulierungen zu arbeiten, die der Struktur folgen: „Wenn ich mich so und so verhal-
te, neigst du zu diesem oder jenem Verhalten“, als mit Formulierun-
gen, die etwa so lauten: „Du bist gehässig, böswillig, eifersüchtig.“ Letztere lassen keine Chance. Außerdem: Charakterisierungen, feste Zuschreibungen sind, wie das Beispiel zeigt, zumeist Bewertungen, als solche haben sie in Wahrheit die Funktion, eigene Ängste zu unterdrücken. Besser, sich den Ängsten zu stellen. Sagst du zum Beispiel, ich sei verkopft, so verbirgt sich dahinter, nach allem, was ich bisher mit dir erlebt habe, vermutlich ...

Henriette, beeindruckt: „Ich fänd´s gut, wir würden uns eine Stunde lang beleidigen, uns alles an den Kopf werfen, was uns einfällt. Vielleicht wären wir dann durch.“

Wir essen.

Wenn sich um den Zeckeneinstich ein roter Kreis bildet, dann muss ich zum Arzt, sagt sie. 

„Ich lass dich nicht gehen“, sage ich.

Sie fährt um die Ecke.

Ich bin erleichtert, wieder allein zu sein.

 

 

2. Abendlicher Lauf am Waldrand, Projektplanung

 

Dämmerung, in der Nähe des Bauernhauses.

ICH, mit Diktiergerät.

 

ICH: (passiert das Haus) Die Bäume stehen so dicht. (tritt in Pfüt-
zen) 
Macht nichts. (denkt an das Projekt) Aus Scheiße Gold machen. (sieht MATHILDE, deren erhitztes, wütendes Gesicht aus dem Seitenfenster des Passats herausschaut) Der Passat steckt fest.

 

Motor heult.

 

MATHILDE: Die Räder drehen durch. (schaltet den Motor aus)

ICH: (gleichmütig) Ohne einen Traktor wird das nichts. 

 

Ein Lieferwagen fährt an ICH vorbei, biegt in einen Waldweg ein.

 

ICH: (folgt mit Abstand, läuft, wo der Lieferwagen abgebogen ist, geradeaus weiter) Vier Kinder sind nicht zur Welt gekom-
men. (prüft, ob das Mikrophon an seinem Hemd festsitzt, ob die Aufnahme läuft) Drei Abbrüche, eine Fehlgeburt. Um alle tut´s mir leid. (beschleunigt) Ich habe kein Recht, um sie zu weinen. Ich würde wieder so entscheiden. (denkt nach)  Wahrscheinlich. 

HENRIETTE: (inzwischen im Krankenhaus, zieht sich den Kittel über) Das ist sehr traurig.

ICH: (kurz) Ja. Es ist so irrwitzig still hier draußen. So weit bin ich noch nie gelaufen.

 

Die Baumstämme, die den Weg säumen, huschen in zügigem Tempo einer nach dem anderen an ihm vorbei. 

Glocken läuten über ein Feld hin.

 

ICH: Den Atem leicht halten. Glocken. (überlegt, welche Kirche es ist, die läutet) Ich habe drei Geschwister, wir sind zu viert. Ich fand das immer bezeichnend. Vier sind in der Welt, vier nicht –

HENRIETTE: (über den Flur des Krankenhauses, sehr eilig) Was ist daran bezeichnend?

ICH: Ich dachte: ich musste erst (sucht nach Worten) unsere Konstellation abarbeiten, ehe ...

HENRIETTE: (böse) Abarbeiten? Ehe was?

ICH: Ehe ich selbst eine Familie haben kann.

HENRIETTE: (wirft einen letzten Blick über die Schulter zu ihm, betritt den OP)

ICH: Das wird nie sein. (hebt den Blick) So weit bin ich die Gasselstiege noch nie gelaufen.

 

Abendnebel.

Pferdeweide, kein Pferd da.

 

ICH: In welch endlose Ferne ist dieser andere Leib gerückt, der 
mich geboren hat. (Bauchnabel lodert) Mein Bauchnabel! ... 
(läuft weiter) Abstieg, in die Tiefe. Über Opfer reden wir ein anderes Mal. (macht sich in Gedanken eine Notiz, zieht kurz das Diktiergerät aus der Tasche, prüft die Funktionen, das Gerät läuft) Traumata müssen durchgearbeitet werden, natürlich. Auf unterschiedlichsten Wegen. Therapeutisch, künstlerisch, lauf-
end, erinnernd. Katharsis hat viele Gesichter. 

MATHILDE: (mit Koffer auf einer Promenade am Meer) 

ICH: Keine zwei Monate, nachdem wir uns getrennt haben, war Mathilde schwanger. Dieses Kind hätte zur Welt kommen dürfen, aber es wollte nicht.

MATHILDE: Ich habe dich nicht verlassen, weil ich ein Kind wollte.

ICH: Nein. (sieht seine Mutter winkend vor der Haustür, seinen Vater das Haus verlassen und an ihr vorbei mit festem Schritt den Weg zum Wald hinaufgehen, über ihm der Mond im Zenit) Was weine ich denn!

 

ICH fährt jäh aus dem Schlaf in die Höhe. 

 

MATHILDE: (im Bett, neben ihm) Was ist?

ICH: (atmet stark)

MATHILDE: (besorgt) Hast du geträumt?

ICH: Nein. (sinkt zurück) So muss das gewesen sein! Als es ihn in der Nacht in die Höhe riss. Der Patient im Nebenbett hat es gese-
hen! Als der Blitz in sein Gehirn einschlug, in sein Gehirn. 

MATHILDE: (neben ihm, brennt)

 

Ein Fenster schlägt gegen den Rahmen.

 

ICH: (bleibt stehen, der Weg endet an einer Straße) Das Geschlecht verbrennt, was ihm nahekommt. Ich rühre dich nicht mehr an.

HENRIETTE: (im OP) Mich aber bitte schon!

ICH: (freut sich)

 

Am Horizont Wolkengebirge.

 

ICH: (läuft jenseits der Straße weiter, bewegt im Finstern schlafwand-
lerisch die Beine, einen Abhang hinab, denkt)
 Gib mir die Hand für den Abstieg ... Ins Totenfeld ... Über mir schließt sich eine Membran ... (an einer Wegkreuzung) Fliegen im Laternen-
licht. (Brustkorb hebt sich, senkt sich) Die Anstrengung stiehlt mir den Gedanken. (zu MATHILDE) Angst, Not, wir haben einiges miteinander durchlebt.

MATHILDE: (freundlich)

DIKTIERGERÄT: (schaltet sich aus)

ICH: (merkt es nicht) Gut, ich mache mir jetzt Gedanken über das Projekt. Ein möglicher Plan wäre ...

 

 

3. Tag danach, bei Henriette in B---

 

Meine Finger schmerzen. Es gibt eine Krankheit, die zu verkürzten Sehnen führt, sagt Henriette. „Vielleicht hast du die.“ Manchmal erwache ich mit Schmerzen in den Händen. Als hätte ich die ganze Nacht krampfhaft die Fäuste geballt.

Ich frage Henriette, ob sie bei den ersten Begegnungen mit anderen Leuten tatsächlich, wie sie behauptet, zuerst (und ausschließlich) die positiven Eigenschaften wahrnehme. 

Sie: „Ja.“ 

Ich: „Ich nicht.“ Ich erhöhe mich, indem ich andre erniedrige.

Sie: „Das ist bei mir umgekehrt.“

Ich: „Wie ist die Logik?“

Sie: „Was ich an dem Menschen interessant finde, ist das, was mich mit ihm verbindet. Darin begegnen wir uns.“

Ich: „Aha, verstehe.“ (Ich verstehe nicht.)

Männer, sage ich, sind potentielle Konkurrenten. Frauen: entweder attraktiv oder nicht attraktiv. Lieber ist es mir, sie sind nicht attraktiv, dann beschäftigen sie mich nicht weiter.

Das sind die Wahrnehmungsmuster.

Regen. Tag ohne Glanz. 

Sie will einen Kuchen backen. 

Wir wollen Sex. (Wie immer und überall.)

Der Kuchen braucht zwanzig Minuten. Die Zeit geben wir uns. 

Wir brauchen viel länger. Den Kuchen holen wir rechtzeitig aus dem Backofen. 

Ich komme zweimal in sie, ohne Kondom. Der Saft läuft aus ihr heraus. Das ist ungewohnt. Es gefällt ihr nicht. 

Um halb sieben (erst) sind wir da, wo wir spazieren wollen, in Orth. An der Weserbiege. Kähne tuckern flussabwärts. Sie hockt zwischen den Sandhügeln. Ich stehe, rede. Als wir weggehen, ist die Stimmung schlecht. „Du hast keine Visionen“, sagt sie. Was die Liebe betrifft.

Wir essen etwas, zu Hause, am Tisch. 

Die Stimmung ist schlecht. 

In der Nacht knipst Henriette das Licht an. 

Erklär mir das genauer.

Längeres Zusammensein ist unmöglich. Ich gehe ein, werde apathisch, matt. Ich verliere jede Impulssicherheit, ich verliere den Kontakt zu meinem Körper, zu dem, was ich möchte, will, gern täte. Die zwei, drei Tage, die ich für ein Zusammensein mit dir einplane (die Länge entspricht meinen Möglichkeiten, gemäß bisheriger Erfahrung), schalte ich mein anderes, sonstiges Leben aus. Ich überlasse mich, mit dir, dem Fluss des Tags. Wir gehen schwimmen, spazieren, wir essen, wir trinken etwas (Alkohol). Wir sind uns sehr nah. Sex ist primär. Nebengeordnet, aber zugeordnet, wesentlich: die Gespräche = der geistige Austausch. Mehr will ich nicht. Es beflügelt mich nicht, darüber nachzudenken, wie wir unsere Zukunft gestalten können. Zukunftsüberlegungen lähmen mich. 

So kann nichts entstehen.

Was soll entstehen?

Leben, Familie.

Ich will Kinder (vielleicht), aber nicht die Frau dazu.

Ich inszeniere (zur Not) Krisen, damit wir, wenn wir zu stark miteinan-
der verwachsen, wieder Abstand gewinnen, damit der Sex lebendig bleibt, damit ich mich wieder existent fühle. Der Abstand gibt mir Sicherheit und ermöglicht mir, dir wieder zu begegnen.

Ein dauerndes Spiel von Anziehung und Abstoßung.

Bin ich im Innern der Membran, sterbe ich. Bin ich außerhalb, stirbst du.

Ich beute dich aus, natürlich. Ich leugne die Existenz der Beziehung, profitiere aber (heimlich) davon, dass sie existiert. Mein Double-Bind-Verhalten motiviert dich, deine Bemühungen um mich zu verstärken. Mein Selbstwertgefühl steigt durch dich. Das ist der Zweck. Da du nie zur Ruhe kommst, da wir nie zur Ruhe kommen, kommt es nie dazu, dass andere Dinge (dir) wichtiger werden als ich. Der Kampf um mich hat Priorität. Du hast deine Existenz damit verknüpft. Du glaubst, du brauchst mich. 

Wir sind uns in der Sexualität sehr nah, im Leben fern.

Wir lieben uns. Seltsam.

Ich mache dich verrückt, so bleibt das Energieniveau hoch.

Mir genügt diese Art der Liebe. Ja, ich bündel sogar – das ist sehr unklug, aber es ist meine Gewohnheit – mein ganzes Sozialleben in diesem Liebesbund, der keiner ist. Hier (bei dir) bin ich halb, aber es genügt mir, um nirgends sonst sein zu müssen.

Was tue ich in der freiwerdenden Zeit?

Ich schreibe. 

Sollst du doch zwischen deinen Tagebüchern, Schriften und Gedanken verrecken!

Dass du irgendwann kapitulierst (und mich verlässt), akzeptiere ich. Dann ist der Moment gekommen, in dem ich die Zähne zusammen-
beißen, den Verlust aushalten muss. Das tue ich, demütig, weil ich mich schuldig gemacht habe.

Schuld ...

Wie willst du leben? Das ist die Frage!

Hast du Angst (verschlungen zu werden), oder sind deine Wünsche einfach andere! Wenn ja, welche sind es.

Du denkst, wir könnten zueinanderkommen, eine Lebensform entwickeln, jenseits aller bürgerlichen Vorstellungen.

Jeder Mensch, sagt Henriette, hat Freude daran, sich ein Leben vorzustellen, das er führen möchte. Er hat Freude daran, es zu entwickeln. Warum nicht du auch!

Ich kann`s mir nicht vorstellen, dass du einen dicken Bauch bekommst. 

Du bist grausam.

Der Zug fährt um 9 Uhr 17. Henriette ist bereits im Krankenhaus.

Ich suche einen Lippenstift, um einen Gruß auf dem Spiegel im Flur zu hinterlassen. Ich finde keinen. Ich verlasse die Wohnung, ohne einen Gruß zu hinterlassen. Sie wird denken: Er ist gegangen, ohne einen Gruß zu hinterlassen. Er ist gleichgültig.

Beziehungen beginnen schamlos, dann werden sie schamhaft. Das wäre schrecklich. Nie, nie.

 

 

 

Hochheben

 

Die Premiere ist ... Ach, kein Wort weiter! Ich steh hier am Tresen, steh, LIEGE (so hin, Brust über dem Resopal). Ich schau mich um, das lange Haar fällt mir vor die Augen. Ist das Marlen da hinten? Wahrscheinlich. Wer tanzt. Ich. Gleich. Gleich ... Getränk her! DAS DAUERT. Jubeln wollen. Jetzt nimmt mich einer an seine Brust. Den ich nicht kenne. Er sagt GROSZARTIG, er sagt GEIL. Er hebt mich regelrecht hoch. Ich bin ekstatisch. Ich werde selten HOCHGEHO-
BEN. Genau genommen war der letzte, der mich HOCHGEHOBEN hat, mein Bruder. Da war ich sehr viel kleiner, und mein Bruder war der STARKE. Hier habe ich also wieder einen STARKEN gefunden, der mich HOCHHEBT. Er ist mindestens zwei Meter groß, und hat Schultern wie einer, der Klaviere hochhebt. Aber er hebt keine Kla-
viere. Er IST irgendwas anderes. „Lutter hieß der, nicht wahr?“ Ja, ja, so hieß die Figur. Klar, der Böse. Sicher, die spiele ich am liebsten. Ich will mich ja schließlich nicht bei Oma und Tante einschmeicheln. Nee, sagt der Typ (und schaut starr in die Richtung der Tür, und durch sie hinaus), Oma und Schwiegermutter sind absolut tabu. „Ich kenn das Stück nicht“, sagt er jetzt, „ich bin nur im zweiten Akt rein, weil jemand gesagt hat, dass man den gesehen haben muss, weil du den Lutter spielst.“ Aha! Ich lache. Ziemlich albern, wie ich lache, aber ich bin schon etwas betrunken. Ich kann mich nicht zurückhalten. Ich habe GESIEGT. Nicht Claire, die den dritten Akt bestreitet – fast ALLEIN, nur einmal komme ich herein, wenn auch durch die Bodenluke, was immer Aufmerksamkeit schafft, aber alles in allem: doch nur ein klei-
ner Auftritt – nicht Claire also hat abgeräumt. Sondern ICH. Dieser Typ, „ich komme grad aus London“, sagt er gerade jetzt, und das passt, das PASST, denke ich, dieser Typ hier, der ist eben nur zum zweiten Akt gekommen. „Wer hat dir den Tipp gegeben“, sage ich, und meine Stimme rutscht in die Höhe. „Tipp?“ – „Na, das mit dem zweiten Akt.“ – „Ach so. Jemand“, sagt er, und er holt ein Notizbuch aus der Tasche. „Moment mal eben“, er schaut zur Tür, er notiert sich etwas, ich warte ... Sag mehr, denke ich, sag mehr! „Ja“, sagt er jetzt, „ich fand´s wirklich ... Das kann nicht jeder. Ich weiß ja nicht, wie du ...“, Immer wieder schaut er zur Tür, „... wie du zu Promoting stehst. Ich kann vielleicht was für dich tun.“ – „Ja, sicher“, sage ich, plötzlich ernüchtert. Was kann er denn meinen. „Ich komme, wie gesagt, aus London. Ich bin nur zufällig hier. Das ist ja hier ein Drecksnest. Muss man sagen ...“

„Ja“, sage ich und nicke.

Sicher, es ist ein Drecksnest.

Ich schaue mir mein Gegenüber genauer an.

Er zieht regelmäßig die Nase hoch. Er schaut immer zur Tür.

Jemand umarmt mich, von hinten.

Es ist Georg.

„Auch gut“, sagt der Londoner und weist auf ihn, nickt. „Der Hund, der goldene Hund.“

Ja.

Ich denke daran, wie ich Georg nach der Vorstellung unter der Dusche die goldene Farbe abgerieben habe. Ich löse mich von dem seltsamen Mann, der sich jetzt zum Tresen dreht und so tut, als hätte er gar nicht mit mir gesprochen. Er lässt sich ein Glas Bier geben. 

Georg stellt mich seinen Eltern vor.

Marlen kommt die Treppe herauf. Ich finde sie sehr hübsch.

Der Intendant huscht vorbei. Er hat irgendwo dahinten seinen eignen Tisch.

Ich schlendere durchs Foyer.

Es gibt nichts weiter zu tun.

 

 

 

Skate-Board

 

1.

Das Skate-Board unterm Arm komme ich nach Hause.

Es war ein GLORREICHER Tag. Immer wieder denke ich dieses Wort. Was für ein GLORREICHER Tag!

Für andere mag so ein Tag nichts Besonderes sein.

Aber mir haben sich Welten aufgetan.

Mir ist, als wäre ich all die Jahre, die ich dieses Skate-Board habe und auch benutze, immer nur geradeaus gefahren, berechenbare Wege. Plötzlich aber – und ich weiß nicht warum, und warum GERADE HEU-
TE – ist mir GERADE HEUTE in den Sinn gekommen, dass man mit solch einem FORTBEWEGUNGSMITTEL doch noch ganz andere Dinge machen kann. Nicht, dass ich das nicht gewusst hätte. Nicht, dass ich nicht jeden Tag und überall in dieser Stadt Menschen gese-
hen hätte, die auf ihren Skate-Boards die verrücktesten Dreh- und Wendungen ausprobieren, aber aus irgendeinem Grund – über den ich nachdenken muss! – bin ich nie auf die Idee gekommen, dass auch ich, AUCH ICH diese Dinge ausprobieren könnte. Übrigens bin ich kein schlechter Skate-Board-Fahrer, im Gegenteil. Das Gerade-
ausfahren macht mir so schnell keiner nach. Nicht in der Form, in der ich es beherrsche. Ich habe das Geradeausfahren perfektioniert. Und es gibt – auch beim Geradeausfahren – sehr viel zu perfektionieren. Es ist ein Unterschied, ob man geradeaus fährt, weil es automatisch so passiert, oder ob man geradeaus fährt, weil man es will, und indem man die gerade Linie, auf der man sich bewegt, am Boden unter sich spürt, und spürt, wann man abweicht, und um welchen Grad. Nicht viele, denke ich, können die Linie spüren, auf der sie sich bewegen, die sie hinter sich zurücklassen, die sie in den Raum schreiben.

Aber heute hab ich Dinge ausprobiert.

Auf einem Bein.

Richtungswechsel.

Ich schließe die Tür auf.

Ich bin zu Hause.

 

2.

Die Stimmung ist verändert.

War es ein GLORREICHER Tag, so ist es jetzt keiner mehr.

Es ist bedrückend, in meiner Wohnung zu sein.

Ich habe zwei Wohnungen. Ich besitze sie. Ich verfüge über sie.

Sie unterscheiden sich nicht sehr. 

In der einen stehen die etwas älteren Möbel, in der anderen (die ich später angemietet habe) die etwas neueren. Das ist alles. In beiden sind die Kühlschränke gefüllt, in beiden gibt es Waschzeug und Zahnpasta. Es mangelt an nichts.

Ich benutze beide.

Verlasse ich die eine, bin ich auf dem Weg zur anderen. Verlasse ich diese, geht es zurück zur ersten. Welche die erste ist und welche die zweite, hängt davon ab, wo ich die Nacht verbracht habe. Ich verbrin-
ge sie in der Wohnung, in der ich müde werde.

Ich komme in die Wohnung (eine der beiden) und vollziehe alle die Rituale, die mit dem Nach-Hause-Kommen verbunden sind. Ich hänge die Jacke auf, ich stelle die Heizung an, ich koche Kaffee. Ich setze mich aufatmend in einen Stuhl. Ich schaue zum Fenster hinaus. Ich beobachte die Nachbarin beim Ausklopfen des Teppichs, beim Füttern der Kaninchen. Ich werde müde und döse.

Ich werde wieder wach, ich bin unruhig.

Ich will hinaus.

Ich begebe mich auf den Weg zu der anderen Wohnung. Komme ich dort an, ist es auch hier dasselbe: Jacke, Heizung, Kaffee kochen. Ausruhen.

Hier ist es ein älterer Mann, den ich beobachte. Er hält zwei schwere Bücher zum Fenster hinaus und schlägt sie flach gegeneinander. Staub wirbelt auf.

Einmal hier, einmal dort.

Es ist nicht das Wahre.

Ob es mir besser ginge, wenn ich nur eine Wohnung hätte, weiß ich nicht.

 

 

 

Gunnar K.

 

Ich begegne Gunnar K. 

Er schüttelt mir die Hand.

Auf meine Frage, wie es ihm gehe, sagt er, gut, er trete ein neues Engagement an, am Bochumer Schauspielhaus.

Ich überlege, wie lange es dauern wird, bis Gunnar K.. eine Liebschaft im Ensemble beginnt. Und welche Schauspielerin es dieses Mal sein wird.

Vielleicht, weil ihm nichts anderes einfällt, sagt er: „Letztlich verdanke ich das Engagement dir.“

Ich sage nichts.

„Hättest du damals nicht jede Gelegenheit wahrgenommen, dich mit den Leuten zu überwerfen, ich hätte keine Chance gehabt, ein Bein in die Tür zu kriegen.“

„In X-Town“, sage ich abfällig.

„Egal, wo. Irgendwo beginnt´s.“

Er lächelt.

„Ja, das ist immer hilfreich, wenn es Leute gibt, die, so hoch sie steigen, doch immer wieder abstürzen, und zwar schnell. So wie du. Die immer das Nötige tun, dass man sie wieder los sein will, noch ehe die Sache richtig losgeht. Die anderen, minder Begabten, im Weg stehen, aber dann doch höflich beiseitetreten. Indem sie den Inten-
danten ohrfeigen oder dem Regisseur das Rauchen auf der Probe verbieten oder zu einem Kollegen sagen, er solle sich lieber um seine dauernd rote Birne und seinen Bluthochdruck kümmern, als das Spiel anderer Leute kritisieren. Das waren doch so die Dinge, oder? ...“

Ich zucke die Achseln. „Kann sein.“

„Und schön, dass dann immer ein Gunnar wie ich in den Startlöchern steht, und der nutzt seine Chance, weißt du. Ungehemmt. Und begeg-
net dir Jahre später. Und wo bist du? Und wo bin ich.“

„Ja, sicher“, sage ich, „das ist bitter.“

Gunnar K. sagt: „Lauf, Hündchen, lauf!“, und wirft einen imaginären Knochen die Straße hinunter.

 

Ich laufe die Straße hinunter.

Ja, so ist es gewesen.

Ich habe mich verweigert. Ich habe gesagt: „Ich werde diese Szene nicht Satz für Satz proben, sondern immer nur im Ganzen. Anders geht es nicht. Anders mache ich es nicht. Das weiß hier jeder. Deshalb lächeln auch alle so, weil du sagst, ich solle da an dieser Stelle, die dir nicht gefallen hat, noch einmal einsetzen. Sie wissen jetzt, dass wir Krach miteinander haben werden. Sie freuen sich schon.“

Und tatsächlich, Gernot rauchte.

Und ich sagte, das gehe nicht.

Immerhin damit war ich meiner Zeit voraus.

Und Corinna dachte schon daran, dass es eine Umbesetzung geben würde. Dass man einen freien Schauspieler wird engagieren müssen. Dass es eilt. Und dass sie Gunnar empfehlen kann. Und dass der nur auf die Gelegenheit wartet.

 

 

 

Sternenhimmel

 

Ich habe meine Eltern eingeladen.

Aber ich habe sie noch nicht im Zuschauerraum entdeckt.

Ich treibe mich im Foyer herum. 

Ich bin bereits umgezogen. Da ich ganz normale Alltagskleidung anhabe (und nur eine kleine Rolle spiele), erkennt niemand, dass ich zu den Schauspielern gehöre und hier, im Foyer, um diese Zeit, zehn Minuten vor Beginn, WIRKLICH NICHTS ZU SUCHEN HABE. Aber natürlich sind mir meine Eltern wichtiger als alle Regeln.

Warum aber halten sie sich nicht an die Regeln!

Ich schaue auf das Telegramm, das ihr Kommen ankündigt.

Ich gehe auf die Straße hinaus.

Da steht meine Mutter.

Als sie mich sieht, macht sie eine Geste, die etwa besagt: Nutzlos, unnütz, kann man nichts machen. Ich sehe auch gleich, was sie meint. An der nächsten Ecke, wo die Straße in den Platz mündet, an deren anderem Ende das Hotel liegt, wo ich die beiden untergebracht habe, steht mein Vater. Er schaut abwechselnd auf die Stadtkarte, auf den Platz, zu meiner Mutter und zum Himmel hinauf. Er hält etwas in der Hand, in nehme an, es ist ein Kompass. Er wird sich – das weiß ich – nicht eher von dort wegbewegen, als bis er in seinen Koordinaten-
systemen (Karte, Namen, Himmel) bestimmt hat ausmachen können, dass er richtig ist. Da NÜTZT es tatsächlich nichts, dass er das Akademietheater ja schon vor seiner Nase hat. Er muss es in der Karte auffinden, sonst existiert es nicht. Ich habe Sympathie für diese Haltung, ABER MANCHMAL IST SIE FEHL AM PLATZ. Ich zucke meinerseits mit den Achseln und geh wieder hinein.

Neun Minuten, acht Minuten, ich streune.

Ich kümmere mich jetzt nicht mehr um sie.

Wie komme ich auf die Hinterbühne?

Die Tür, die vom Foyer direkt in die Garderobenbereiche führt, ist inzwischen abgeschlossen, das weiß ich.

Ich überlege, ob die Eltern vielleicht gar nicht so scharf darauf sind, die Aufführung noch einmal zu sehen. Schließlich muss meine Mutter ertragen, dass ich eine untergeordnete Rolle spiele, und mein Vater, der so etwas schätzt, weil er der Meinung ist, dass sich in solch einer Position der Charakter zeigt, nimmt seinerseits Anstoß daran, mich mit einem Zopf sehen zu müssen. Das ist ihm aus irgendeinem mir (und auch ihm) nicht nachvollziehbaren Grund geradezu UNANGENEHM. „Obwohl es ja schließlich nur eine Rolle ist“, sagt er selbstkritisch dazu.

Ich binde mir die Haare zum Zopf.

Ich stelle mich darauf ein, zu Beginn der Vorstellung aus dem Zu-
schauerraum auf die Bühne hinaufzugehen. Da wir heute mit dem 
2. Akt, also mit der Partyszene beginnen, werde ich einfach zu der Gastgeberin, Mascha Petrovna, sagen: „Die Hintertür war zu, und bitte entschuldigen Sie, dass ich zu spät komme, meine Eltern waren besoffen“, das wird dann insgesamt mehr Text sein, als ich eigentlich im Stück habe (denn ich bin nur ein einsamer, alter Kartenspieler rechts außen am Spieltisch), und Mascha Petrovna wird mich gütig anschauen und mir dabei durch die Zähne zuflüstern: „Alter Wichser!“ Das tut sie manchmal. Ich nehme an, um sich in Schwung zu bringen. Jeder hat seine Tricks.

Ich sehe, als ich später das Herz As ausspiele, die Eltern in der ersten Reihe sitzen.

  


        

 

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