Quittsein III: Viel Ärger (12 Storys)

 


Christian Fries
Quittsein III: Viel Ärger

12 Storys

 

 


Nacht

 

Ich stolpere die Treppe hinauf, ich bin vollständig betrunken. Dass ich zuletzt immer wieder in diese Wohnung zurückkehren muss, ist mir zu-wider und unangenehm. Betrete ich die Wohnung, so wird der Flur von grauem, milchigem Licht erfüllt sein, das sind die Laternen im Gara-genhof, die durch das Küchenfenster einen Lichtschein hereinwerfen. Gegenüber der Wohnungstür aber wird ein schwarzes, finstres Loch klaffen, das ist die vermutlich offen stehende Tür zum Wohnzimmer. Da schläft mein Vater, und er hat die Jalousien heruntergezogen. Sein Bett steht gleich hinter der halb offen stehenden Tür rechts. Und ob er schläft, weiß niemand. Manchmal höre ich ein leichtes Schnarchen, und er ist nicht der Typ, der simuliert. Dann weiß ich, er schläft. Aber heute zum Beispiel? Ich trete ein, ich bleibe auf der Schwelle stehen, ich atme nicht, ich horche. Nichts. Der Schlüssel in meiner Hand plin-kert leise. Gottverdammt! Dass man selbst immer Lebenszeichen von sich gibt! Ich trample jetzt wild los, geh in die Küche, schalte die De-ckenlampe ein. Ich reiße den Kühlschrank auf, ich bediene mich. 

Mein Vater ruft meinen Namen.

Ich gehe zu ihm, ich taste mich in der Dunkelheit des Wohnzimmers zu seinem Bett, ich setze mich auf die Kante.

„Was ist?“, sage ich, wenig freundlich. Das ist er gewohnt.

„Ich bin froh, dass du zurückgekommen bist.“

„Nachdem du mit einem Glas nach mir geworfen hast.“

Er sagt nichts.

„Da musst du kein schlechtes Gewissen haben. Genauso hätte ich es nach dir werfen können. Nur ist die Frage, ob du dich so schnell hät-test ducken können.“ Ich kichere. „Wie das am Heizkörper zerschellt ist! Und wie Mutter mit dem Pudding hinter mir her ist, um die Wogen zu glätten!“

Vater lacht nicht mit. Die Erinnerung an den Eklat  mittags scheint ihn zu belasten.

„Man kann nicht allein leben“, sagt er jetzt. Ziemlich zusammenhang-los, denke ich. 

Ich werde auch triefig. Ich sage: „Etwas miteinander teilen.“

„Sich mitteilen“, sagt er. Sieh da! Schon korrigiert er mich wieder. Ob-wohl er jetzt in der Dunkelheit nach meinem Gesicht tastet.

„Lass das!“, höre ich mich sagen.

Ich gehe wieder in die Küche.

Bald darauf folgt er. Er ist in weißer Unterwäsche, ich schaue weg.

Er trinkt ein Glas Milch.

Weil die Milch kalt ist, schaukelt er jeden Schluck eine Weile im Mund, bevor er ihn nach unten befördert. Vielleicht schmeckt er sie auch, be-wusst, wie er so etwas macht. Das orale Alter. 

Ich schaue weg.



 

Graues Jackett

 

Leo trägt ein graues Jackett. 

Er kommt auf mich zu, mit schnellem Schritt.

Ich strecke grad mein linkes Bein aus, um in das Segelboot einzu-steigen. Der Besitzer des Boots löst schon die Vertäuung, wir wollen hinaus aufs Meer, dahin, wo es blau ist, wo die Sonne scheint und in der Ferne schwere Tanker und Frachtschiffe vorübergleiten.

Leo winkt!

Ich kann mich nicht verbergen, in der Wolke meiner Pläne, Wünsche, Hoffnungen. Ich ziehe also – verdammt noch mal! – das Bein zurück. Ich nicke dem Bootsbesitzer zu. „Wait please!“, sage ich. (Er spricht nur Spanisch!)

Ich muss sagen: es ist wunderschön hier!

Leo fällt mir in die Arme.

Er schluchzt. 

Es ist klar, was er mir sagen wird. Dass es zu Ende geht.

Aber dass er schluchzt, stimmt nicht. Im Gegenteil: Er wirkt sehr ge-fasst.

„Ich habe Informationspflicht“, sagt er.

Er habe es Hanne versprochen, und der Tochter, Ricky, auch: Er wer-de es allen sagen, die es angeht.

Er habe es sich versprochen.

Er wird etwas zurücklassen. Nämlich: Die Information.

Ich nicke. Was meint er?

Er zieht mich jetzt vom Boot fort. Er hat nicht einmal hingesehen. Der Bootsbesitzer macht es sich auf der Ruderbank gemütlich, mit einem Butterbrot.

Also, was ist denn!

Ich sehe Leos trockene Lippen. Er ist so dürr – aber das war er immer.

Hier gefällt es ihm.

„Es ist nicht so“, sagt er, „dass ich depressiv wäre.“ Er lehnt sich mit dem Ellenbogen auf den Fenstersims eines Hauses, vor dem wir ste-henbleiben (eine Arztpraxis!), er gräbt seinen Kopf, die wilde Mähne (die wieder nachgewachsen ist), in die rechte Hand. Sicher, das er-warte man, von einem Todgeweihten. Aber wichtiger sei ihm, dass er noch reden könne, dass er zu allen sprechen könne. Das erste, sicher, das sei, dass er also ... sterben werde. Nun stutzt er doch. Ich denke: Er realisiert es erst jetzt! Aber er fährt fort: „So sehen es die, die zu-rückbleiben. Sie können nicht anders. Aber ...“, er stutzt wieder, „ich muss hinein, in den Tunnel. Huh! ...“, ruft er und lacht. „Aber bitte! 
Das Schlimmste ist überstanden. Die Folgen der Chemotherapie sind ja unmenschlich. Da war ich nur noch eine Sache. Oder: ein Fließsy-stem, das gestört ist. Und das, was ich denke ...“, er stutzt erneut, „was dachte ich – nun, das, was ich denke, sind die Gedanken des Morphiums.“ Das sei klar.

Er verfällt.

„Vergiss mich nicht!“, sagt er nur noch.

Er entfernt sich.

Jetzt fällt mir wieder das graue Jackett auf. Ist das nicht das Jackett, das ich neulich zur Altkleidersammlung gegeben habe? Weil es zer-fetzt war, weil das Futter heraushing, weil die Taschen nichts mehr hielten! Ganz sicher, denke ich. Ich freue mich, dass Leo es trägt. Es steht ihm. Auch wenn man sieht, dass es für einen Mann mit breiteren Schultern gemacht ist.

Jetzt bin ich auf mich zurückgeworfen. Und sei es, dass ich Leo nach-eifern will, dass ich sagen will, Auch mir geht es schlecht!, plötzlich spüre ich so starke Schmerzen in der Hand ... dass ich sie mir am lieb-sten abhacken würde!

Die Sonne tritt zwischen zwei Häusern hervor und taucht alles in einen blendend hellen Schein: das Wasser, die Boote, und auch Leo, der auf der anderen Seite des Hafenbeckens in eine Seitengasse verschwin-det, hüpfend wie ein Kind, das die Hausaufgaben erledigt hat und nun
spielen geht.

Das Boot, mit dem ich hatte hinausfahren wollen, ins Blaue, und für das ich bereits bezahlt hatte, ist verschwunden. Ich werde mich ins kalte Wasser stürzen. Ich will etwas fühlen, sage ich zu Leo.

 

 

 

Heiratsmarkt

 

Am Markt. 

Nach der Schule. 

Mittag.

 

PEA: Ich bin Pea, und du bist Peter.

PETER: Ja, das stimmt.

PEA: Und der da? Das ist ...

PETER: Das ist ... (zögert)

PEA: (lächelt) Na?

PETER: Das ist Norbert Kornettka, glaube ich.

PEA: Nicht wahr, ein starker Junge. Oder?

PETER: Das kann schon sein.

PEA: Ich habe mich davon überzeugt. (weich) Das musst du ver-stehen.

PETER: (störrisch) Was muss ich verstehen.

PEA: (still) Dass ich da jetzt rüber muss.

PETER: Mh ... ja ...eine Frage hätte ich schon noch.

PEA: (willig) Ja?

PETER: Was heißt ... naja, was heißt, dass du dich überzeugt hast. Von seiner Stärke. Hat er vor deinen Augen Holz gehackt? Oder den Hockeyschläger zerbrochen, den er als Kind gehabt hat? Oder seinen Vater vertrimmt? Oder dich vertrimmt? Oder meinst du das ... Naja, ich kann mir denken, dass du das ...

PEA: Genau ...

PETER: (gehässig) Ja, eben. Dass du das eher ... sexuell meinst. Es stimmt schon, ich bin noch nicht richtig aufgeklärt, aber ich habe schon verstanden, da steckt einer dem anderen was rein, irgend-wo, und dann kommt was raus. Und das macht Kinder. Hat er dir ein Kind gemacht?

NORBERT: (tritt heran, breit, nachsichtig) Das wollen wir nicht hoffen.

PEA: (grinst schief) Da passe ich schon auf.

NORBERT: (zu PETER) Man kann nie sicher sein.

PETER: Das solltest du im Kopf behalten. Treu ist die nicht. Falls du das denkst.

NORBERT: (nickt freundlich)

PEA: (alarmiert) Was weißt du davon!

PETER: Im IC-Wagon hat sie alle durchgeküsst. Auf der Rückfahrt von der Meisterschaft. Sagt sie. Nur einer hat´s richtig gemacht. Hat das Holz richtig gehackt. Also: ihr die Zunge hinter die Backen-zähne geschoben.

NORBERT: (nachsichtig) Und wer?

PETER: Ich glaube, Nadermann.

PEA: (spöttisch) Der!

PETER: Na was! Hat er, hat er nicht?

PEA: (plötzlich wütend) Ich weiß nicht, was du dir vorstellst. Du bist ja ganz nett. Aber denk mal nach: Wenn wir hier auf der Straße, der ...

PETER: Königstraße!

PEA: ... wenn wir da gehen, dann muss ich auf der Fahrbahn gehen und du auf dem Bürgersteig, damit wir gleich groß sind. Ist das schön? 

PETER: Du schämst dich.

NORBERT: Da hat sie recht, meine ich.

PETER: Sicher, aber ich könnte mir ein Schild umhängen, mit den No-ten vom letzten Zeugnis, ich könnte draufschreiben, was ich wer-den will, und die prozentuale Chance, dass ich das auch errei-che. Und ich könnte hinzufügen, was Norbert wohl für Chancen hat, mit seinem ewig klingelnden Schlüsselbund. Kannst du den mal eine Minute einstecken?

NORBERT: (geht beiseite, spricht mit anderen)

PEA: (sieht ihm alarmiert nach) Mach das nicht noch mal!

PETER: Ich mach, was ich will.

PEA: Ich habe dich anders eingeschätzt.

PETER: Wie?

PEA: Dass du ein Einsehen hast, wo man es haben muss.

PETER: Ich habe es immer nur, wo man es nicht haben muss. (möch-te sie schlagen, bis sie blutet)

PEA: (fängt aus dem Nichts an zu bluten)

PETER: Was ist das jetzt. Oben oder unten.

NADERMANN: (winkt)

PEA: (winkt)

PETER: (geht weg)

 

Zu Hause ist er klein. 

Was hat er an dem Tag getan.

Um sich ins Lot zu bringen.

 

 

 

Viel Ärger

 

Jeanne Schmalz ist mir aufs Zimmer gefolgt. Ich habe die Party ver-lassen, weil ich der Sache nicht mehr gewachsen war. Ja, so ist es. Ich raufe mir die Haare. Da ist Ilka, die es fortwährend so einrichtet, dass mein Blick auf ihren kleinen, hübschen, tanzenden Arsch gerich-tet ist – und sie hat ja ein Recht dazu, könnte man meinen, denn sie ist jetzt meine neue Freundin, die Klasse hat´s gefressen, Ilka selbst erzählt es jedem, mir persönlich ist es ganz egal, ich habe nichts un-terschrieben, nur weil sie mich liebkost, als wäre ich ein Kaninchen, mache ich mir noch keine Gedanken – und dann, hinten an der Wand, mit finstrer Miene, Erni, meine bisherige Freundin, die ich, wenn´s schon drum ginge, viel lieber hätte, rein physisch gesehen, aber sie ist ein so von Minderwertigkeitsgefühlen geplagtes Wesen, dass es wirk-lich keine Freude ist, und so sage ich ihr, Ilka hat jetzt die bessren Kar-ten und lutscht auch besser, und das muss reichen. Aber – verflucht! – ich bin zuletzt doch eine Mimose, und die Spannungen im Raum set-zen mir zu, und Ruut raunt mir ins Ohr, „Wie wär´s, wenn du mal scheißen gingst, so lange du hier bist, ist die Stimmung schlecht!“, aber Ruut, weiß ich, ärgert sich, weil Ilka nicht mehr mit ihm schlafen will, seit sie mit mir schläft (wenn ich sie lasse), und ich verdrehe die Augen. Stimmen wir ab, demokratisch! Wenn die Mehrzahl dafür ist, dass ich die Party verlasse, will ich folgsam sein. Johanna instrumen-talisiert einen Jungen, den sie mit hierhergeschleppt hat, einen Akti-visten aus dem Hunger Projekt, der Typen wie mich (sexy, eitel, drauf-gängerisch) hasst, der Kerl stimmt ohne Weiteres gegen mich. Ich warte das Ergebnis erst gar nicht ab, „Wenn hier fremde Arschlöcher mit abstimmen dürfen!“, lasse den ohrenbetäubenden Lärm und den Strip, den Bettina jetzt grade hinlegt, hinter mir. 

Im Treppenhaus ist es fast still (was mich wundert); ich höre mich selbst mit schleppenden Schritten in die obere Etage hinaufsteigen. Als ich nach 87 Stufen oben ankomme, höre ich, wie unten die Tür geht und mir jemand nachsteigt. Mit gezücktem Schlüssel stehe ich vor meinem One-Room-Appartment, in dem ich seit Beginn des Stu-diums vor zweieinhalb Jahren lebe. Ich höre die Schritte näherkom-men, langsamer werden. Sollte es Edeltraut sein – warum nicht! Aber als mich Arme von hinten umschlingen, erkenne ich gleich die fleischi-gen, dicken Hände von ... nun, eben: Jeanne. Wir kennen uns gut, in der Klasse. Wir kennen unsere Körper wechselseitig in- und auswen-dig, aus zahllosen Improvisationen, körperlichen Übungen, vom Du-schen her.

„Was willst du denn?“, sage ich grob.

Jeanne Schmalz ist die einzige, die nie an mir interessiert schien. Ich bin enttäuscht.

Ein letztes Rätsel muss doch bleiben!

Ich öffne die Tür, sie schlüpft noch vor mir hinein und rollt sich gleich auf dem Bett zusammen.

Mehr als dieses Bett gibt es an Möbeln nicht. Es ist ein altes, eisernes Gitterbett, das ich für 200 D-Mark Abstandszahlung vom Vormieter übernommen habe, einem Absolventen, der von der Schule weg gleich an die Berliner Schaubühne engagiert wurde, zum Nachwuchs-schauspieler des Jahres avancierte (von mir mit Neid verfolgt), und der sich dann in einer Vollmondnacht aufgehängt hat. Heute: verges-sen.

Jeanne erklärt mir, dass sie mich eklig findet; dass meine hohlen Sprü-che widerwärtig sind, und die Art, wie ich immer die Brust rausstrecke: abstoßend. Aber es sei, wie es sei, sie denke so viel, so oft an mich. Und denke über mich nach, was wohl meine Probleme seien (ich schnaube!); und sie sei eifersüchtig auf Ilka und Erni, und auf Edel-traut, denn das merke ja jeder, dass ich im Grunde scharf auf Edel-traut sei, wahrscheinlich, weil die mich nur mit dem Arsch angucke. (Ich flechte ein, ich hätte nichts dagegen, wenn mich eine Frau mit dem Arsch angucke.) Ja, fährt sie fort, diese Eifersucht, diese unsin-nige, zeige ihr, dass da doch etwas sei. So sehr es sie ärgere! Ob sie denn wirklich von diesem Typ (mir) etwas wolle! Das macht ihr zu schaffen, sie schaut missgelaunt vor sich hin, so nachdenklich, dass ich mir, neben ihr stehend, einen runterholen könnte, sie würde es nicht merken.

„Ich will nix von dir“, sage ich, aber das Telefon klingelt, und da es laut klingelt, löscht es wahrscheinlich in Jeannes Geist alles aus, was ich unmittelbar vorher gesagt habe. Musst du ihr gleich noch einmal unter die Nase reiben!, denke ich noch, während ich abhebe.

PFÖRTNER: Hier sind zwei Männer durch, die sich nach dir erkundigt haben. Sahen gewaltbereit aus.

ICH: (panisch) Also doch.

PFÖRTNER: (gelangweilt) Schließ ab.

ICH: Hast du ihnen die Wohnungsnummer genannt!

PFÖRTNER: 212, stimmt doch, oder?

ICH: Du ... Kleinkrämer!

Mir fällt ein, dass ich im Hinterzimmer der Pforte Ilka geleckt habe. Wir waren beide dort, um unsere Fanpost abzuholen, und hatten uns noch vor Ort vorgelesen, was die Fans schrieben. Es war explizit! So war es losgegangen, mit ihr und mir. Aber der Pförtner fand es nicht witzig; solange er noch jung war, hat er auch das eine oder andere Stück Fleisch abgreifen können. Aber damit geht´s inzwischen zu Ende. So rächt er sich an mir.

ICH: Aas.

JEANNE: Was ist.

Ich erkläre ihr kurz, wer die Herren sind, die sich nach mir erkundigt haben. 

Sie versteckt sich unter der Bettdecke. Ich zupfe die Decke ein wenig zurecht. Soll, wer immer sich Zugang zum Zimmer verschafft, gleich sehen, da liegt eine junge Frau im Bett, allein, und sonst ist NIEMAND DA. 

Ich stehe hinter der Tür. 

Ich halte den Atem an.

Ein Schlüssel von draußen schiebt meinen Schlüssel aus dem Schloss, er fällt mit Geklirr zu Boden. 

Vermaledeite alte Loch-Schlösser!

Die Tür geht langsam auf.

In einer Story von Dashiell Hammett wäre es jetzt um mich geschehen.

Die Tür steht still – und schließt sich wieder.

Nein, keineswegs! In perfect slow motion schiebt sich ein Kopf um die Tür herum. ... Ernis Kopf. „Ha!“, ruft sie. „Ach du!“, sage ich, reiße ihr den Schlüssel, den Zweitschlüssel aus der Hand, damit ist´s vorbei! Und als sie jetzt – plötzliche Beschleunigung! – auf den Flur zurückeilt, bin ich hinter ihr her und brüll ihr in den Nacken: „Ich könnte ... mein Gott, ich könnte vor Wut ... könnte dir ... ich bin so, pah! ...“, und ich hebe richtiggehend die Faust gegen sie, es ist eine große Theatersze-ne, dabei sehe ich, sozusagen mit einem rein wahrnehmend einge-stellten, meditativen Teil-Ich meiner selbst, ihren buckligen Witwenhö-cker, ihre hochgezognen Schultern und, für einen Moment hellsehe-risch, auf ihrem (keineswegs entblößten) Rücken eine Tätowierung, in Runenschrift: Teufelsbraut.

Oder: Teufelsbrut?

Ich bleibe stehen.

Erni wird Karriere machen. Ich sollte es mir nicht mit ihr verderben.

Und da – 

Da haben sie mich in der Zange! Die beiden gewaltbereiten Jungs. In ihren Hawaiihemden.

Sie haben hier, neben den Toiletten, auf mich gewartet. Erni ver-schwindet im Männerklo. Die beiden fangen mich ab, ehe ich ihr fol-gen, ja, sie womöglich durch die eine oder andre Handlung wieder für mich einnehmen könnte.

„Raus mit der Kohle“, ruft der Macker, der statt des linken Arms eine Eisenstange hat, ganz wie früher, in alten Kriminalromanen.

„Kohle, Kohle!“, rufe ich. Ich merke, ich habe eine klare, erstarkte
Stimme.

ICH: (dezidiert) Jetzt mal Klartext! Ich fahre einen halben Tag, schlap-pe 370 Kilometer, um mir an eurer beschissenen Provinzschau-spielschule eine Vorstellung mit Absolventen anzusehen. Ihr wollt mich als Atemlehrer, weil meine Atemtechnik berühmt ist, aber ihr wollt Kohle für den Vorstellungsbesuch: 17,50 D-Mark. Seid ihr zu retten? Und du abgewichster Krüppel bist nicht bereit, mir die Bescheinigung rauszurücken, die es mir wenigstens er-möglichen würde, das Fahrtgeld steuerlich abzusetzen! Wer glaubt ihr, dass ihr seid?

Ich ziehe aber erst mal Kaffee ausm Automaten. 

Und Erni sitzt in der Ecke und schneidet sich die Fußnägel. 

Ilka kommt hoch, müde, zeigt mir den Finger. Abwasch unten, sagt sie. 

Und Jeanne Schmalz trottet aus meinem Zimmer, hat sich mein Bett-zeug um die Schulter gehängt. „Kommst du bald“, sagt sie schläfrig.

Ruut höre ich ein Stockwerk tiefer Klavier üben. Ich weiß, er ist es, er übt immer dieselbe spießige Arabesque von ... von ...

Ich bin müde.

Debussy.

Zanger, so heißt der Mann mit dem Eisenarm, legt mir den Eisenarm um die Schulter. „Komischerweise bist du mir trotz allem sympathisch“, sage ich zu ihm. 

Unten ist Kehraus: der Kaisermarsch klingt herauf.

Vor den Fenstern Morgendämmerung. 

Wir kommen alle irgendwie zur Ruhe. 




Spasmus

 

Mutter, öffne mal die Hand!

Es geht nicht. Sie schaut mich groß an. 

Sie hat die rechte Hand im Schoß vergraben.

Das ist merkwürdig.

Ich schaue nicht mehr hin.

Ich war zwei Stunden bei ihr, sie hat die Hand nicht zum Vorschein ge-bracht.

Ich streichle die andere Hand.

Lässt sie ein wenig los, geht eine Kaskade unkontrollierter Bewegun-gen durch ihren Körper.

ALARM, scheinen die Bewegungen zu sagen.

Alles zittert, zuckt.

Sie krampft wieder. Sie beruhigt sich.

Die Hände sind feucht und stinken.

Ich bin froh, dass ich jetzt verstehe, woher der Geruch kommt. Ich war auf ihren Schoß fixiert. Bitte, Mutter, nimm die Hand da weg!

Ich wusste nicht, was ich fühle.

Hinter mir ruft eine Frau immer wieder: „Mama, hilf mir!“ Ganz leise, niemand hört es als ich allein. Wenn eine Pflegekraft sie hört, sagt sie beschwichtigend: „Ihre Mutter kommt bald. Wir sind ja da.“

Keine Mutter kommt, je.

Heute: keine Unruhe auf der Station. Aber Unglück.

Mutter schläft fast nur.

Wacht sie auf, schaut sie.

Aber selten schaut sie mich an.

Ich fühle mich nutzlos. Ich will nicht traurig sein, also werde ich fühllos. So funktioniert das. Es ist richtig, in dieser Situation fühllos zu sein. Es ist eine bizarre, unwirkliche Situation. Indem ich fühllos werde, werde auch ich irreal. Ich muss mich losreißen. Irgendwann, bald.

Alex (der junge Pfleger) sagt: Die Schlafphasen werden immer länger. Er will wohl sagen: Es geht zu Ende.

So kommt es mir auch vor.

(Aber sie wird noch über ein Jahr leben.)

Er zeigt, wie sie sie dazu bringen, die Hände zu öffnen.

Ich habe vergessen, wie.

Da sind sie, die Waschfrauenhände, die weichgefeuchteten. Die stinkenden.

Der Geruch kommt in einer Welle.

Ekel?

Nein, nicht mehr. Seit ich weiß, woher der Geruch kommt.

Alex kann sprechen. Bisher dachte ich, er lächelt nur.

Er hält es aus, dass die Frauen auf der Station sich an ihn hängen, ihn umarmen. Nur wenn sie ihn küssen wollen, drängt er sie ab.

Ich beobachte die anderen.

Das Dreiergespann, das miteinander durch die Flure zieht, sich etwas erzählt. Das ist auf Station 3 selten. Zwei Frauen, ein Mann. Die Frau-en haben sich rechts und links eingehakt. Er kräht laut herum. Er fühlt sich. 

 

Dann lag ich auf der Bank im Garten.

Die Augen fielen mir zu, ich war erschöpft.

Polizisten werden kommen.

Darf ich hier nicht liegen?

Ich weiß es nicht.

Liegen ist verdächtig. Ich bin mir auch verdächtig.

Ich lerne Gedichte auswendig. Um nicht nachdenken zu müssen. (Nicht, dass ich, wenn ich dächte, etwas dächte, das formulierbar wäre.) „Sonne purpurn untergeht ...“

Ich erhebe mich. Ich trotte über die Brücke ins Stadtzentrum hinüber.

Ich nähere mich dem Bahnhof.

Ich sehe Obdachlose.

Irgendwann wird Mutter sterben. 

Das ist ungeheuerlich!

 

 

 

Onkel Sam

 

Ich reise nach Paris.

Ich treffe dort Onkel Sam.

Sam ist der Bruder meiner Mutter, er ist kinderlos und lebt mit einer pensionierten Grundschullehrerin zusammen. Die ihn drangsaliert. Und die ihn auffordert, den Kontakt mit mir abzubrechen. Bisher war er standhaft, aber es gibt Anzeichen dafür, dass seine Gegenwehr brö-ckelt. 

Er ist sehr schlecht gelaunt, als er mich am Flughafen abholt und mich die Halle Richtung Ausgang entlangreißt. Offenbar hat er vergessen, dass er mir die Hand gegeben, sie dann aber nicht losgelassen hat, jedenfalls hält er sie fest, während er losstürmt, so stürze ich, an der Hand hängend, vor seiner Nase herum und springe auf und ab wie ein junger Hund. 

„Was hast du denn!“, ruft er verärgert. 

Als ich ihm die Hand mit einem energischen Ruck entziehe, schnellt sie ihm hoch unters Kinn. Er  beißt sich auf die Lippe, die Lippe blutet. 

„Das ist ein Anfang!“, sagt er.

 

Später (er hält immer noch das Taschentuch vor die Lippe, irgendet-was scheint er festhalten zu müssen!) sitzen wir in einer kleinen, dunk-len Gastronomie mit niedriger Decke  – sagen wir: linkes Seineufer. Es hat Tradition, dass er mich einlädt, aber in so einer Spelunke waren wir noch nie. 

„Ich bin pleite“, sagt er. (Was vermutlich nicht der Wahrheit entspricht.) „Außerdem“, fährt er fort, „arbeitest Du jetzt mit Chabrol, da kannst du selbst für dein Abendessen aufkommen.“

Tatsächlich, wir ziehen die Köpfe ein, so niedrig ist es hier, in der Ecke unter der Galerie. Wir mussten uns bücken, um in die Bank hineinzu-rutschen. Der Ober, der uns die Gerichte bringt, ist nur bis zum Brust-bein zu sehen, er hält uns die Teller blind entgegen.

Onkel Sam schmatzt, wie immer.

Obendrein spitzt er die Lippen und nuckelt wie ein Säugling an dem Hühnerbein herum.

„Das ist ja widerlich“, sage ich rundheraus. 

„Sei nicht so spießig.“

Ah!, macht er jetzt. Essen befriedigt ihn. Trotz allem.

„Die Chefin“, er meint die Grundschullehrerin, „drängt auf eine gemein-same Wohnung. Das hatten wir noch nie. Zwei Wohnungen überein-ander, wie es jetzt ist, das ist eine gutes Arrangement, finde ich. Aber nun hat sie sich in den Kopf gesetzt, dass beide Wohnungen nicht altersgerecht seien. Und wer auch immer es ist, der ihrer Meinung nach von uns beiden zuerst abkackt, sie meint, eines Tages gehe es so nicht mehr. Das stimmt schon. Auf dem Absatz der zweiten Etage haben wir bereits eine kleine Bank aufgestellt, da machen wir Pause, wenn´s die Treppe hinaufgeht. Es gibt keinen Aufzug, wie du weißt, und es ist auch keiner geplant. Jetzt verbringen wir ganze Nachmitta-ge mit der Besichtigung düsterer Parterre-Wohnungen, die nach Pis-se stinken, oder sündhaft teurer Loft-Apartments im 20. Stockwerk ir-gendwelcher Neubauten, die, kaum errichtet, bereits wieder einstür-zen. Mit Blick auf Vorortslums und zugeschüttete Kanäle.“

„Aber mit Aufzug“, werfe ich ein.

„Was?“

Er schaut mich an.

„Wie ist Chabrol so?“

„Alt“, sage ich. 

Lebt er überhaupt noch? Ich habe nichts Gegenteiliges gehört.

„Wann geht es los?“

Ich nenne ihm Drehbeginn und Gage. 

Er zuckt zusammen. 

„Dass du doch noch Karriere machst, ärgert mich sehr. Ich selbst, was mich betrifft, dachte, ich habe keine Karriere gemacht, weil ich eben untalentiert bin. Aber nun sehe ich: es geht auch ohne Talent.“

Ich deute an, dass ich ihm gern die Faust ins Gesicht rammen würde.

Er deutet an, dass er schneller wäre.

Obwohl ich gar nicht zugeschlagen habe, öffnet sich die Wunde an seinem Mund wieder. Das Blut läuft in kleinen Rinnsalen das Kinn hinunter. 

„Scheiße, was ist das!“

Es tropft auf die Reste der Mahlzeit.

Sam streckt den Kopf unter der Galerie hervor und winkt dem Kellner.

Ich bin ihm gegenüber schon etwas weniger passiv als zu anderen Zeiten. Und auch weniger redselig. Früher hielt ich ihm lange Vorträge über das System Familie. „Du bist der Sohn meiner Schwester“, sagte er dann manchmal. Nun biete ich keine Angriffsfläche mehr. So verfol-ge ich über die Jahre meinen Fortschritt.

„Da wird´s jetzt also losgehen“, sagt er und leckt das Restblut von der Lippe.

„Chabrol ist nur ein Ausflug“, sage ich. „Meine Berufung liegt im Theater.“

Er winkt ab.

Solche Flausen werden sich geben!

 

Während wir dann am Ufer der Seine auf und ab gehen, erläutert er mir, wie er die Erbschaftsfragen zu lösen gedenkt. „Mir ist lieber“, sagt er, „dir jetzt einmalig einen Batzen auszuzahlen, keinen größeren Be-trag, das ist ja klar. Aber immer noch mehr, als dir gesetzlich zusteht, da wird´s dann keinen Ärger geben. Aber damit bist du dann auch raus aus der Sache. Die Alternative wäre, dass ich alles an Simone, ne, wart mal, Hilde ...“, er schüttelt den Kopf, als müsse er Insekten abwehren, „da isses wieder, das leidige Namensgedächtnis ... an ... Heike! überweise ... Ei, wenn sie das wüsste!“, plötzlich ist er ganz fröhlich. „Also: an ... Heike, aus dem Jenseits sozusagen, und die ent-scheidet dann, wie viel sie dir zukommen lässt.“ Er wiegt wohlwollend den Kopf. „Das wäre eine schöne Variante. Das würden wir doch alle gern erleben, wie du plötzlich höflich wirst und auch mal an einem Sonntagnachmittag zum Tee vorbeischaust und so weiter. Tja, Spaß beiseite, ihr seid euch nicht grün, das wird sich auch nicht mehr än-dern, das ist eben die gegenseitige EIFERSUCHT! Wer leidet darun-ter? Ich! Niemand sonst. Aber weil es nun einmal so ist, wäre es nicht allzu fair, die Summe dessen, was dein alter Onkel Sam dir hinterlässt, ihrer Tageslaune anheimzustellen. Also, wenn ich aus Bahia zurück-komme“, er wird griesgrämig, „ach, das ist ja ...“

Er stutzt, verfällt.

„Was ist los, Onkel“, frage ich (zusehends abgelenkt, alles ist interessanter als Erbschaftsfragen!).

„Nichts. Mir fiel ein, dass ich ja alle Reisen dieses Jahr storniert habe. Italien, Indien, Brasilien ... Teufel noch mal ...“

Auf die Frage, warum, murmelt er nur: Wohnung, Testament, Erb-schaft. Wir werden auch heiraten. 

Ich bin verwirrt.

Jetzt schüttelt er mir, vor dem Hotel, des Langen und Breiten die Hand. Er greift mit beiden Pranken zu. Erneut will er einfach nicht loslassen. Gleich wird er mich den Bürgersteig entlangreißen, weil er wieder vergisst, dass er meine Hand in der seinen hält!

Kurz schrei ich ihn an. Ohne Emotion, nur laut.

Das hilft. Der Schreck fährt ihm durch die Glieder.

Seltsamerweise gefällt ihm das.

„Mach das noch mal!“

„So was geht nicht zweimal hinterein – aah!!! Doch, geht!“

Er lacht sich tot.

„Noch mal.“

Und so bleiben wir noch eine Weile vor dem Hotel stehen, wie Kinder beim Kinderspiel, die vergessen, dass Mama sie heimgerufen hat. Wir reden über irgendwas, Belangloses, „aber nicht zu belanglos“, sagt er, „sonst bleibe ich ja in der Habachtstellung!“, stimmt, sage ich, wie ma-chen wir es – aah!!!, ha!, erwischt! ... Und plötzlich dann, ganz unver-mutet, schreit er zurück – aah!!!, und ich erschrecke ebenso maßlos.

Und meine Mutter winkt vom Himmel, „kommt endlich heim!“, und schüttelt den Kopf.

Kindsköpfe.

Zuletzt zieht er noch ein paar Scheine aus ... aah!!!, der Tasche. Tut so, als wolle er mir die Scheine in die Brusttasche meines Jacketts stecken, wühlt in der Brusttasche herum, „hier war doch immer ein Kondom!“, und die Scheine – aah! – verschwinden, statt in meiner Brusttasche, einer nach dem anderen in seinem eigenen Ärmel. Während seine Lippen anschwellen und erneut zu bluten beginnen, und aus dem blutschäumenden Mund unverständliche Wortpartikel herausquellen, die ich physisch zu Boden fallen und auf die Seine zuflattern sehe.

 

Von Onkel Sam werden wir noch hören.

Gut, dass ich von ihm nicht abhängig bin.

Von niemandem mehr.

 

 

 

Witze erzählen

 

Julian ist dann, später, nicht durch den Londoner, zu einem ehrenden Engagement gekommen, aber es hat ihm nichts eingebracht. Seine Kusine hatte ihm den Kontakt verschafft, und da seine Kusine in dem Theater nicht geachtet wurde, wurde er es auch nicht. Und, so sagte er dann oft, er sei verkrampft gewesen. Und die dümmlichen Mitspie-ler, alle einen Kopf größer als er, hätten ihn einfach an den Rand ge-drückt. Das hätten sie hingekriegt. Da wussten sie, wie. Er habe sich nicht wehren können, außer durch Unmut, Gereiztheit. Er habe sich unbeliebt gemacht. Das kann ich mir vorstellen. Niemand, sagt er, ha-be sein Potential gesehen. So gehe es manchmal. Er sei froh gewe-sen, als er den Ort hinter sich lassen konnte. Aber, natürlich: eine Chance vertan.

Und oft sehe ich, wenn er so das Bein über die Lehne des Sessels hängt und den Kopf in die aufgestützte Hand vergräbt, den Unglückli-chen vor mir, den, der sich nicht da sieht, wo er sich sehen möchte. Und es ist klar, dass auch wir, Gemma und ich, ihm nicht genügen. Nicht, weil wir schlechte Schauspieler wären, sondern (letztlich) er-folglose, wie er.

Er hasst in uns sich.

Das ist normal.

Dann wieder berichtet er lachend, dass alle diese dümmlichen Typen
ehemalige Internatsschüler gewesen seien. „Merkwürdig“, sagt er, „und beeindruckend!“ Einer, der noch der freundlichste gewesen sei und sich manchmal bei ihm untergehakt habe (Hauptrollenspieler), habe ihm das erklärt. „In so einer Jungengemeinde musst du dich durchsetzen. Das Gesicht wahren. Tricks anwenden. Gute Miene zum bösen Spiel machen. Merkt man dir an, dass du verletzt bist, hast du schon verloren. Witze erzählen, das ist das Wichtigste. Man muss ein großer Witzeerzähler sein. Damit kann man punkten. Und jeder Witz sagt: Mich kriegt keiner unter. Ich habe dich noch nie einen Witz er-zählen hören.“

Ihr würdet mir nicht zuhören, habe er, Julian, geantwortet.

Und der andere habe gelacht und gesagt: „Das stimmt.“

Manchmal erzählt Julian einen Witz. Nicht besonders gut, aber wir sind alle keine guten Witzeerzähler, so räumt er vergleichsweise ab.




  Party

 

Ich hatte mich bei Jennies Party ganz schrecklich betrunken. 

Absicht war es nicht, aber Resultat.

Und ich hatte mich auch schon einigermaßen danebenbenommen; hatte Luise, indem ich ihr alle fünf Finger meiner rechten Hand entge-genstreckte, gesagt, dass ich, wenn sie mir noch einmal unters Hemd an die nackten Nippel griffe und dran zöge, dasselbe bei ihr tun würde, was zur Folge hatte, dass sie mir unters Hemd griff, traumwandlerisch sicher den Nippel rechts erwischte und dran zog – worauf ich mich schreiend auf sie stürzte und Anstalten machte, sie zu vergewaltigen – na, irgendwas! Was ein paar riesengroße Männer, die ich nicht kannte, verhinderten, indem sie mich kurzerhand beiseiteschoben, um dann ihrerseits einen dichten Ring um Luise zu bilden, die ich lachen hörte, hinter dieser Fleischwand, Gott befohlen. 

Dann hatte ich in einer Abstellkammer, in die ich mich auf der Suche nach der Toilette verirrt hatte, Karnevalshüte entdeckt, kleine, dumme, bunte Hüte, nichts Besonderes weiter, aber nun rannte ich mit diesen Hüten herum, setzte sie jedem auf, der mir querkam, niemand fand es lustig, man rief nach Jennie, die aber eine Etage tiefer eine Auseinan-dersetzung hatte und einfach „nicht wiederkam“, wie eine Freundin, die ich nicht kannte, immer wieder rief: „Sie kommt einfach nicht wie-der!“

Die Freundin war auch ziemlich betrunken.

Jetzt taumelte ich auf die Toilette, diesmal hatte ich die richtige Tür er-wischt. (Ich kannte mich in diesem Gemeindehaus, wo die Party statt-fand, nicht aus!) Ich schloss mich in eine der Klokabinen ein, besser gesagt: ich wollte das, aber die Tür schloss nicht und öffnete sich im-mer wieder. Ich hatte die Hose schon unten, die sich ziemlich zäh anfühlende Scheiße quoll schon aus mir raus, da kämpfte ich immer noch damit, die Tür ins Schloss zu ziehen, den Knauf zu drehen, aber es gelang nicht! Um nicht von der Schüssel zu fallen, ließ ich den Knauf los, schon drehte sich die Tür in den Angeln: wieder saß ich da, zur freien Einsicht. 

„Ach, soll doch der – “, rief ich schließlich.

Jetzt, da ich einen Moment stillsaß, merkte ich erst, wie betrunken ich war. 

 

Ich griff nach dem Papier und versuchte, mir den H. abzuwischen. Aber diese tausend-, wenn nicht hunderttausendfach erprobte einfa-che Handlung erwies sich als unerwartet schwierig. Erst schien die Scheiße tatsächlich zäh wie Gummi und wollte nicht am Papier haften. „Das kann doch nicht sein!“, rief ich wieder laut. Dann wusste ich plötzlich nicht mehr, wie das denn normalerweise eigentlich funktio-niert!, wie ich mich denn körperlich organisieren muss, um einen Blick auf das Klopapier zu werfen, unten herum, zwischen den Beinen hin-durch, seitwärts? Zuletzt bemerkte ich, dass das Unterhemd mir zwi-schengeraten war, und dass ich den unteren Rand des Hemds tief in die Kimme hineintrieb. 

Das war ja zum –

Hunter (aus Marburg), den ich auf der Party noch gar nicht gesehen hatte, kam herein. „Gott, es stinkt!“, sagte er entschieden. Ich griff wie-der zur Tür. Nein! Oh nein! Auch am Boden krümmt sich die Scheiße!

Nicht von mir!

Es geht nicht voran.

„Wie können – “

„Was?“

„Wie können – “

„Was denn!“

„ – die einfach-fasten Verrichtungen – “

„Ja?“

„ – die einem sonst kei-keine Pro... – “

„Ja – “

„ – zum Problem werden.“

 

Ich habe dann, auf einem Stuhl sitzend, gewartet, bis ich nüchtern wurde. Ich stank, aber das fiel niemandem auf, niemand kam mir nah.

Ich überlegte immer wieder, wie es sein konnte, dass ich auf dieser Party, die Jennie gab, niemanden kannte, außer der ewigen Flirt-flamme Luise, die aber inzwischen mit den Männern abgezogen war, und Hunter, der offenbar nur auf dem Klo existierte. Einmal sagte je-mand in meiner Nähe: „Herr Kerbel?“, und mir kam es so vor, als sei das der Name einer Rolle, die ich kürzlich in Tübingen im Zimmerthea-ter gespielt hatte, also meldete ich mich und sagte: „Ja?“, aber offen-bar war doch ein wirklicher Herr Kerbel anwesend, und die Ereignisse gingen über mich hinweg.

Als ich nüchtern war, erhob ich mich.

Überall Leute. 

Aufbruch, Morgenkater. 

Ein Mann um die dreißig hatte seinen kleinen Sohn an der Hand, das fiel mir auf. Der Sohn zog den Vater hinter sich her, er schien jeman-den zu suchen. 

Wen denn? Mich?

Die Mutter, wen sonst. Dachte ich abfällig.

Ja, ich war nüchtern, aber das Problem der einfachen Verrichtungen
blieb bestehen. Gedanken, Handlungen, alles vollzog sich in zäher 
Langsamkeit. Das Portemonnaie war weg. Jedenfalls fürchtete ich das plötzlich. Es wird gewiss vorn im Rucksack sein. Rucksack ist hier. Vorn drin, ja. Nein, das ist ein Fotoapparat. Aha! Den habe ich von Mi-lan geliehen. Ich weiß, mit welcher Absicht, aber im Moment komme ich einfach nicht drauf. Und das Portemonnaie? Steckt dahinter. Gut! Der Schal. Liegt vielleicht auf dem langen Tisch im Flur. Da liegen vie-le übriggebliebene Kleidungsstücke. Das ist er. Nein, der sieht ihm nur ähnlich. Aber der, der ist es. Ich habe ihn wirklich gefunden! Ich bin er-staunt! Fehlt die Jacke. Grad lag sie noch auf dem Stuhl, auf dem ich gesessen bin. 

Ich suche lange, ich will aufgeben. 

Mir fällt auf, ich habe sie bereits an. Hab sie also angezogen, noch be-vor ich nach dem Schal suchte. Ist ja auch die richtige Reihenfolge, denke ich.

Da geht wieder der Sohn mit dem Vater.

Ich sehe jetzt: Der Vater ist blind. 

Ich erschrecke.

 

Ich erhielt noch einen Anruf, während ich durch die Straßen lief. Ich hatte größte Mühe, mich zu konzentrieren. Elli erklärte mir, sie habe jetzt einen Lover festgemacht (so sagte sie), einen echten, einen wirklichen! Und Henrike sei angepisst. Weil sie, Elli, jetzt keine Zeit mehr für sie, Henrike, habe. Ja, sie müsse das zugeben. Sie habe jetzt keine Zeit mehr für Henrike.

- Also eifersüchtig!, rief ich dazwischen.

- Ja, sagte Elli, doppelt eifersüchtig.

- Auf ihn, auf dich.

- Ja, genau.

Ich auch, eifersüchtig. Auf Elli, auf Henrike, auf den Lover.

Auf das Kind und den blinden Mann.

Ich sah Elli in roten Kleidern vor mir. Wann hatte ich sie zuletzt gese-hen? Vielleicht hatte sie solche Kleider getragen, eigentlich kannte ich Elli nur in Leder. Sie sah (in meiner Vorstellung) strahlend aus, wahr-scheinlich, weil sie mir eben in strahlendem Ton von ihrem Lover er-zählt hatte.

„Und Freder, das alte Haus! Hast du den schon rausgeschmissen?“, fragte ich und spielte auf Querelen an, die sich zwischen den beiden seit Monaten hinzogen.

„Er geht ins Kloster“, sagte sie. „Er macht ernst. Er nimmt nichts mit.“

Ich stieg grad über ein paar Pfützen, sagte: „Mhm, mhm, hör mal ...“, und klickte sie weg. 

Zu Hause säuberte ich mich.

Es ging mir schlecht.

 

 

 

Aufräumen

 

Ich liege in einem schmalen Feldbett, mitten in der weitläufigen Men-sa. Der Raum ist abgedunkelt, aber von irgendwoher fällt ein mattes, milchiges Licht herein. Links von mir scheinen ein paar Tische zu ste-hen, schattenhafte Umrisse, ich habe soeben die Augen geöffnet.

Ich muss mich besinnen.

Richtig, die Psychodrama-Fortbildungswoche geht zu Ende. In der Ferne höre ich den Lärm feiernder Menschen, das wird die Abschluss-party sein.

Offenbar bin ich nicht hingegangen. 

Weit weg: Lachen.

Ich bin noch nicht ganz bei mir. 

Plötzlich wird die Tür aufgerissen. Ich hebe vorsichtig den Kopf. Im Türspalt steht eine dralle, bärbeißig aussehende Frau um die 50, mit eng stehenden Augen, sie wirft einen langen Blick auf mich, schnaubt, und knallt die Tür wieder zu.

Ich beginne zu zittern.

Wieder fliegt die Tür auf. „Nun los!“, ruft die Frau. „Wieso sind Sie noch hier.“

„Ich habe noch Zeit!“, sage ich, ziehe das Bettuch dichter an den Hals und füge hinzu: „Ich bin bereit, bevor ich gehe, den Boden zu putzen oder Staub zu wischen. Wenn es darum geht!“ Ich will die Frau be-schämen, aber ich werde keinen Erfolg damit haben.

„Ich will mit der Arbeit vorankommen“, sagt sie kalt und verschwindet.

Ich weiß, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als aufzustehen und zu gehen.

Das Herz klopft.

Ich rühre mich nicht.

Die Angst brennt so stark in mir, in meinem Körper! Die Eichel schmerzt.

Nun hat die Frau zum dritten Mal die Mensa betreten. Diesmal ist sie stiller, aber nicht weniger kalt. Sie steht hinter dem Kopfende meines Bettes. Ich kann sie nicht sehen, aber ich spüre sie, wie einen kalten, mächtigen Nebel. 

Ich werde aufstehen und gehen. Ja, was bleibt mir anderes! Aber so lange sie anwesend ist, wird das ja gar nicht möglich sein! Ich bin un-ter dem dünnen Bettuch vollständig nackt. 

Ich kann mich nicht rühren.

„Ich will alles in Ruhe zu Ende bringen“, sage ich und höre plötz-lich, wie ihre Zähne klappern.

 

In der Ferne noch immer der Lärm fröhlich feiernder Menschen. 

Und hier: seltsamer Stillstand.

 

 

 

Spirale

 

IKE, am Kinderschreibtisch.

FRAU ERICHSEN, seine Lehrerin.


FRAU ERICHSEN: (mit Hut) Ich bringe dir einen neuen Schwung Briefmarken.

IKE: Oh, danke. (wenig begeistert) Dann werde ich die mal ablösen.

FRAU ERICHSEN: (beugt sich vor) Das mach nur. 

IKE: (weicht aus)

VATER: (herein) Ah, die liebe Ruth!

FRAU ERICHSEN: (erfreut) Der liebe Gerd!

VATER: Schau, was ich gefunden habe. (hält eine kleine Börse hoch)

IKE: Das ist meine.

VATER: (unbeirrt) Der Inhalt bringt mich auf gewisse Fragen. (zu FRAU ERICHSEN) Wie machst du das eigentlich! Benutzt du die Spirale?

MUTTER: (geht kurz durch den Raum)

FRAU ERICHSEN: Ja, das ist so. (eifrig) An gewissen Tagen ...

VATER: Nein, ich meine grundsätzlich – benutzt du die Spirale, oder machst du es so, dass ...

FRAU ERICHSEN: Ja, davon will ich ja grad ...

VATER: Ja?

FRAU ERICHSEN: Ich finde, in unserer Generation ist es besonders wichtig ...

VATER: Sicher, außerordentlich wichtig.

FRAU ERICHSEN: Ich sage zu den Kindern in der Klasse gern ...

VATER: Dass du die Spirale benutzt.

FRAU ERICHSEN: Nein, nein. Das wäre auch verfrüht. Schau dir dei-nen Sohn an!

VATER: Sohn, was meinst du dazu?

IKE: Die Börse gehört mir.

FRAU ERICHSEN: Frag mich noch mal.

MUTTER: (geht durch das Zimmer)

VATER: Die Spirale. Ist die Spirale ein Gegenstand der allgemeinen Benutzung ...

FRAU ERICHSEN: (lacht erfreut) Die Spirale, die Spirale ...

IKE: Jetzt reicht´s mir. (geht zum VATER, nimmt ihm die Börse weg) Da drin ist ein Chip, ein Computerchip, und auf dem Chip, und auch auf allen anderen Datenträgern, die sich da drin finden, ist Musik. Musik, Musik! 

VATER: (etwas kleinlaut) Ja, es ist gut, dass du mir klarmachst, dass die Börse dir gehört. Das ist das Mindeste, was ich zugeben kann.

 

IKE legt feuchte Briefmarken mit dem Bild nach unten aufs Löschblatt.

 

IKE: Alter Kram.

 

 

 

Gruppe

 

1

Wir kennen uns, natürlich, alle sehr gut.

Nach den Jahren. Und sitzen eisig nebeneinander. In einer Reihe.

Vor uns die leere Bühne.

Wir haben einen starken Nimbus. Das wird jeder bestätigen.

Aber unsere Gruppe ist in Gefahr auseinanderzufallen.

Es gibt Konflikte.

Irgendwer wird den Anfang machen müssen.

„Es gibt Konflikte“, sage ich laut, „und natürlich wäre es gut, wenn diese angesprochen würden.“

Nichts bewegt sich.

„Warum sitzen wir nicht im Kreis“, rufe ich laut.

 

2

Nun steht einer auf.

Aber es ist nur der Beginn eines allgemeinen Exodus. Der PARTNER
(den wir so nennen) hat von nebenan seinen Kopf hereingesteckt und mitgeteilt, dass der Film beginnt. Es ist ein Film, der unsere Gruppen-arbeit darstellt. Ein positiver Film, den Hanno gedreht hat, den alle be-mäkeln und kritisieren, den alle runtermachen, auf den aber doch alle stolz sind.

Wie die Kollegen nun hinaus gehen, sind sie belebt und beißen in ihr Butterbrot, in mitgebrachtes Obst, lachen und tauschen witzige Be-merkungen aus.

 

3

Eine kleine Gruppe bleibt, der harte Kern.

Es ist, als sei die Luft noch dichter geworden, als sie es schon zuvor war. Hier und da verdichtet sie sich so stark, dass WORTE entstehen. Kurz liest du sie, dann zerfallen sie. MUT, oder KATASTROPHE. Viel-leicht haben wir, harter Kern, der wir sind, in dieser dichteren Atmo-sphäre eine bessere Chance, Lösungen für unsere Konflikte zu finden.

Ich sitze auf der Lehne eines Stuhls, „auf Kante“, sage ich mir, und ich frage mich plötzlich, wie dringlich mein Wunsch, die Gruppe zusam-menzuhalten, denn wirklich ist. Wie eine Lawine stürzt diese unerwar-tete Frage in die Tiefe meiner Seele, und reißt mit, was sich ihr in den Weg stellt: Sentimentalität, Bedenken, Angst.

Ich bin ja selbst ein unverlässlicher Geselle!, sage ich mir.

Jetzt steht HANS groß im Raum.

Er trägt, wie immer, einen langen schwarzen Mantel, schwarze Hose, schwarzes Hemd.

„Was willst du“, rufe ich, denn ich weiß, dass er gegen mich vorgehen will.

„Setz dich doch hin“, sagt er. „Sitz nicht immer auf Kante! Setz dich, kannst du dich nicht hinsetzen?“

„Aha!“, antworte ich und erhebe meine Stimme. „Gut, dass die Dinge zur Sprache kommen. Ich habe mich auf die Lehne dieses Stuhls ge-setzt“, ich steigere die Lautstärke, ich spreche für den öffentlichen Raum, „das war meine Entscheidung, und ich denke, daran gibt es nichts auszusetzen, das war in Ordnung. Aber selbstverständlich“, ich werde drohend, ich bin bedrohlich, „wenn er, Hans, das will, setze ich mich, so wie er es will.“

Ich setze mich.

Ich habe laut gesprochen.

Alle haben unseren Konflikt mitgekriegt.

Alle schweigen.

Vielleicht wissen alle, dass es ihr Konflikt ist, den wir austragen. 

Aber wieder bin ich es, an dem er eskaliert.

Ich bin erschöpft.

Ich schmeiße mit Macht einen Stuhl an die Wand.

„Er zerlegt die Bühne“, höre ich jemanden sagen.

 

4

„Schau mal“, sagt Vivien. (Es ist, als sei sie schon die ganze Zeit bei mir.)

Vor uns auf der abschüssigen Rasenfläche befindet sich ein Brunnen. Und über den Rand des Brunnens ragt der Kopf eines Menschen. Es ist ein förmlicher Kopf. Der Kopf eines förmlichen Menschen.

Das Bild gefällt mir sehr gut. Der Rasen, der Brunnen, der Kopf.

„Was wird daraus?“

Jetzt kommen einige von den SPLENDIDS, der jungen Nachwuchs-gruppe, der wir verschiedentlich das Haus für ihre Aktionen zur Ver-fügung stellen. Einer verstreut Laub, ein andrer nimmt den Kopf weg. 

„Aha!“, sage ich erneut.

Offenbar ist die Person im Brunnen unbemerkt gegen einen Pappkopf eingetauscht worden. 

Das beschäftigt mich.

Vivien ist der Meinung, dass es sich von Anfang an um einen Papp-kopf gehandelt hat.

„Aber der Kopf hat sich bewegt“, sage ich.

Sie glaubt das nicht.

„Es war Hans, ich habe ihn erkannt.“

„Es ist Hans, ja, aber nur sein Konterfei.“

Ich bin wütend und andrer Meinung.

 

5

Plötzlich stehe ich auf und verlasse den Raum.

Mein Herz blutet.

Dass ich gehe, ist eine verspätete Folge der Auseinandersetzung mit Hans.

Seit ich den Stuhl an die Wand geworfen habe, sind Sekunden der Stille vergangen, des Stillstands.

Nun löse ich ihn auf.

Wir müssen ja alle atmen.

Also gehe ich eben. Einer muss es tun: den Stuhl schmeißen. Gehen.

Niemand hält mich auf.

 

6

Ich bin dann vor die Tür.

Und hier ist alles anders. Ach ja, Jahrmarkt! 

Ich schüttle die Arme.

Nun mal halblang!

Das ist ja alles ganz ... ganz gruftig da drin, ich schaue zum Himmel hinauf.

Das Riesenrad dreht sich, die Menschen kreischen. (Immer sind´s die Frauen, die man kreischen hört, aber das liegt an den höheren Stim-men.)

Ein alter Mann bietet mir eine Mahlzeit an.

Er schöpft aus einer runden Pfanne, groß wie ein Wagenrad, und hält mir eine Portion hin.

„Was ist es denn?“, frage ich (und lache ihn an).

„Das weiß ich selbst nicht.“ Er probiert. 

Ich: „Nun haben Sie einen Teil der Portion, die sie mir anbieten, ja schon selbst weggegessen.“ 

Er sagt, das sei so. 

Und dann wird er eins mit dem bunten Hintergrund.

 

 

 

Ballspiel

 

Ich stehe in einem kleinen Raum.

Ich habe einen Ball in der Hand.

Saskia steht mir gegenüber.

Ich werfe ihr den Ball zu.

Offenkundig gelangweilt wirft sie ihn zurück. 

Warum bist du gelangweilt, frage ich.

Man könnte das Spiel auch anders spielen!

Ich bin verärgert. Ich möchte einmal einer Frau begegnen, die mir nicht erklärt, wie das Spiel geht.

Wie denn, sage ich. 

Ich sage es kalt und gleichgültig.

Wieso bist du kalt und gleichgültig, sagt sie. Und, etwas lauter, aber mehr für sich selbst, fährt sie fort: Ich möchte einmal einem Mann begegnen, der nicht kalt und gleichgültig ist.

Im Netz findet man alles, sage ich spöttisch.

Ich weiß, dass Saskia den Computer liebt und Stunden damit ver-bringt, Dateien anzulegen, zu verschieben, zu löschen. 

Schon gut, sagt sie.

Nun reißt sie sich zusammen und erklärt mir, was sie meint. Schau einmal – sagt sie, und sie sagt es mit einer gewissen schwesterlichen Nachsicht in der Stimme, die mich gleich entwaffnet, denn diese schwesterliche Stimme höre ich, seit ich auf der Welt bin – wenn man es so macht (sie legt den Ball auf die eine Hand, während sie die an-dere aufstellt und hinter den Ball platziert) und wirft dann so (sie zeigt, wie), dann bekommt der Ball einen Spin, siehst du? Sie lacht – denn prompt habe ich den Ball nicht gefangen.

Das ist schön, sagt sie, mit deutlich mehr Lust in der Stimme, als sie den ganzen Abend hat hören lassen.

Was ist daran schön, sage ich missmutig. Ich verliere, du gewinnst, was ist daran schön.

Nun, sagt sie, eben das, dass ich gewinne.

Aber, fährt sie begütigend fort, wenn du ein bisschen trainierst, dann gewinnst vielleicht auch du einmal. Oder wenn du eine neue Technik erfindest.

Ich habe eine neue Technik erfunden, sage ich.

Ach? Welche denn?

Nun, eben die, die ich die ganze Zeit bereits praktiziere: Ich greife den Ball beidseits mit beiden Händen, nun werfe ich ihn in einer Weise in die Luft, dass er eben grad keinen Spin entwickelt, sondern in der Luft geradezu stillsteht, siehst du? Das ist erst einmal an und für sich toll, beeindruckend und eine nirgends je erprobte neue Möglichkeit, einen Ball zu werfen, ICH BIN GANZ ALLEIN DARAUF GEKOMMEN. Ich habe viele verschiedene Versuche gemacht, diese Technik ist es, und sie hat den Vorteil, dass du keine Schwierigkeiten hast, den Ball zu fangen.

Ein paar Mal werfen wir den Ball hin und her.

In meiner Technik.

Schließlich legt sie sich in eine Ecke des Raums und wendet mir den Rücken zu.

Ich bin traurig.

Ich habe verstanden: Meine Technik langweilt sie. Saskia will mit mir nicht mehr zusammen sein, wenn ich auf dieser Technik bestehe.

Ich setze mich neben sie.

Ich streichle ihren Rücken.

Es bewirkt nichts.

Wir leben wohl in verschiedenen Welten, sage ich.

Kann sein, antwortet sie dumpf.



             



 

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