Mutterstück

 

 

Christian Fries
Mutterstück

 

Mutter 
Ich 
Ilse, die Schwester

 

 

1. Bild

 

MUTTER: (im Erker, nur die Füße sichtbar)

ICH: Mutter?

MUTTER: Ja?

ICH: Was ist los?

MUTTER: Ich ... ich liege hier. Tja. 

ICH: Was ist passiert.

MUTTER: Ich liege.

ICH: Kannst du aufstehen? (hilft ihr)

 

# = ziemlich lange Pause

 

MUTTER: Ich habe Durst.

ICH: (Milch)

MUTTER: (trinkt drei Gläser)

ICH: Jetzt tut sie, als ob nichts wär´.
Was ist passiert?

MUTTER: (schweigt)

ICH: Wie lang hast du da gelegen?

MUTTER: (zuckt mit den Achseln)

ICH: Bist du gestürzt?

MUTTER: (nickt)

ICH: Hast du dich verletzt?

MUTTER: (zuckt mit den Achseln)

ICH: (kann nichts entdecken) Bist du hungrig.

MUTTER: (bewegt Mund und Kopf, unschlüssig)

ICH: (bereitet etwas zu essen)

MUTTER: (beginnt, im Stehen zu essen)

ICH: Setzt dich hin!

MUTTER: (isst)

ICH: Schmeckt´s?

MUTTER: Es ... es schmeckt.

ICH: Das Licht im Bad ist an. Dein Bett ist gemacht. Hast du die ganze Nacht dort gelegen?

MUTTER: (energisch, verärgert) Ich weiß es nicht. (isst)

 

#

 

MUTTER: Schön, dass du gekommen bist.

ICH: Ja.

 

#

 

MUTTER: Schön ... schön, dass du gekommen bist.

ICH: (bestätigt) Ich rufe mal Ilse an.

MUTTER: (keine Reaktion)

ICH: (geht beiseite, telefoniert) Ja, ich bin´s. Ja, bin ich. Ich habe Mutter im Erker liegend vorgefunden. Keine Ahnung. Ich habe den Verdacht, dass sie da richtig lang gelegen hat. Nein, ich kann nichts erkennen. Sie isst was.

MUTTER: (dreht den Körper in seine Richtung)

ICH: (zu MUTTER) Ilse will mit dir sprechen.

MUTTER: (nimmt Telefon) Ja? Ja. (zuckt mit den Achseln) Weiß ich nicht. (schaltet das Gerät aus)

ICH: He, Moment! (wählt neu) Gut, jetzt weißt du Bescheid. Ich melde mich. 

 

#

 

MUTTER: (isst) Hast du keine Freundin mehr?

ICH: (überrascht) Nein. Nicht mehr, das ist nicht mehr.
Woher weiß sie das? 

MUTTER: (nickt)

ICH: (nickt)

MUTTER: Das ist ja schade.

ICH: (nickt)

 

#

 

MUTTER: (erhebt sich, geht hinaus)

ICH: (schaut ihr nach)

MUTTER: (im Mantel)

ICH: (fragt nicht)

MUTTER: (im Mantel in den Erker)

ICH: (beunruhigt) Was macht sie denn!

MUTTER: (zurück)

ICH: (wartet ab)

MUTTER: (setzt sich im Mantel an den Tisch) Fährst du jetzt?

ICH: Ich bleibe noch ein bisschen. Wolltest du mich zum Auto bringen?

MUTTER: Ich bring dich zum Auto.

ICH: Ich fahre noch nicht.

 

#

 

MUTTER: (geht ab, zieht den Mantel aus, kommt wieder)

 

#

 

MUTTER: (sitzt) Ich bin sehr allein.

ICH: Ja, ich weiß. (Pause) Bist du traurig?

MUTTER: (unklar, ob es stimmt) Ja.

 

#

 

MUTTER: Ich ... ich will nicht mehr leben.

ICH: Das kann man sich nicht aussuchen.

MUTTER: Man kann sich ja das Leben nehmen.

ICH: Mir wär´ lieber, du würdest das nicht tun.

 

#

 

MUTTER: Eine Mutter kann zehn Kinder versorgen, zehn Kinder können keine Mutter versorgen.

ICH: (konsterniert) Was? Was soll das heißen.

MUTTER: Ja ... Is so. Is so.

 

#

 

MUTTER: (trägt eine Zeitung zum Altpapier)

ICH: (beobachtet sie)

MUTTER: (liest einen Zettel, legt ihn hin, schaut zu ihm)

ICH: Mh?

MUTTER: (nimmt den Zettel, dreht ihn, legt ihn wieder hin)

ICH: (versucht, sich wohlzufühlen)

MUTTER: (findet ein Bonbon, steckt es in den Mund)

ICH: Die sind ganz lecker, nicht?

MUTTER: (geht ab)

ICH: (schaut zur Uhr)

MUTTER: (kommt mit Blättern) Guck mal, was ist das ...

ICH: (sieht die Blätter durch) Das ist ... ein Reisebericht. Von wem denn ... Ach! Das ist Lore, das ist von Lore ...

MUTTER: (bestätigt, unklar, ob sie das wusste)

ICH: Davon wusste ich nichts. Das ist von Eurer Reise damals. Ihr seid doch damals – wohin seid ihr gefahren? 

MUTTER: Rom.

ICH: Hier steht´s. Rom. Und hier ... Aha, das ist schon die Rückreise, der Rheinfall bei Schaffhausen.

MUTTER: (bestätigt)

ICH: (froh, eine Geschichte erzählen zu können, aber belegt) Da bin ich mal von St. Gallen aus gewesen. Erinnerst du dich? Ich habe mal in St. Gallen gastiert. Wenn ich probenfrei hatte, hab´ ich Ausflüge gemacht. Und einmal war ich beim Rheinfall. Da gab´s eine in den Felsen hineingeschlagene Treppe, die bin ich hinuntergegangen und stand dann direkt am Wasser. Das tobte da vorbei. Es war grad dunkel geworden, und plötzlich war mir total unheimlich, richtig gruselig. Ich weiß nicht, warum. Ich bin losgerannt, als wär´ der Wasserteufel hinter mir her. (lacht, bemüht)

MUTTER: Da hast du Angst gehabt.

ICH: Ja.

MUTTER: (geheimnisvoll) Tja. (zuckt die Achseln) Und jetzt?

ICH: Mh?

MUTTER: Was ...

ICH: Wo hast du den jetzt hergeholt, den Bericht?

MUTTER: (zuckt mit den Achseln)

ICH: Mit Fotos.

MUTTER: Ich war in St. Gallen.

ICH: St. Gallen, nein, ich war ... (plötzlich) Ach so! Das stimmt. Du hast Recht. Ihr seid zur Aufführung gekommen. 

MUTTER: Wie hieß das noch?

ICH: `Menschenfeind´.

MUTTER: (ungläubig) Ja?

ICH: Ja.

MUTTER: (schaut ihn an)

 

#

 

MUTTER: (zeigt in den Bericht) Wer ist diese H***!

ICH: Na ja, das bist du. Das ist ein Bericht über Eure Reise. Hat Lore geschrieben.

MUTTER: (schaut hinein, plötzlich) Willst du das mal mitnehmen?

ICH: Nein. Das ist ja für dich. (plötzlich kalt) Ich kann damit ja nichts anfangen.

 

#

 

MUTTER: (trägt die Blätter weg)

ICH: (steht, wartet, kaut an den Nägeln)

 

Im Wohnzimmer geht das TV-Gerät an.

 

ICH: (setzt sich, reibt sich Kopf und Nacken)

 

#

 

ICH: (ins alte Kinderzimmer)

 

Klavierspiel aus dem Kinderzimmer. 
Geräusche vom TV-Gerät, Klavierspiel, mischen sich.

 

 

 

2. Bild

 

BEIDE: (sitzen)

ICH: Was ist?

MUTTER: (zuckt mit den Achseln)

 

#

 

MUTTER: Nun fahr mal.

ICH: Ja, gleich.

MUTTER: Ist das weit?

ICH: Eine Stunde. Jetzt wohne ich ja nicht mehr so weit von dir entfernt. Marburg war weiter. Da konnte ich dich nicht so oft besuchen. 

MUTTER: (bestätigt)

ICH: Ich lerne dann ein bisschen Text. Während ich fahre.

MUTTER: Ist das nicht weit.

ICH: (geduldig) Nein.

 

#

 

MUTTER: (Portemonnaie, sehr umständlich, holt zuerst zwanzig, dann dreißig Euro heraus) Ich ... ich will dir was geben.

ICH: Ach nein, Mutter.

MUTTER: Für die Fahrt.

ICH: Sie bezahlt mich. 
Nein, ich will das nicht, Mutter.
Sie denkt, die Kinder und erst recht die Enkel müssen bezahlt werden. Dafür, dass sie es mit der bösen, alten Miezekatze aushalten. Sie hat sicher Recht. 
Warst du bei Hannas Geburtstag?

MUTTER: J... Ja.

ICH: Wie war es.

MUTTER: Ich ... ich hab mich nicht wohlgefühlt. Ich wollte nach Hause.

ICH: Ja, das habe ich gehört. Warum?

MUTTER: (zuckt mit den Achseln)

 

#

 

MUTTER: Ich war da überflüssig.

ICH: Hat Hanna sich nicht gefreut, dass du da warst?

MUTTER: Doch. Gefreut schon.

ICH: Aber du nicht.

MUTTER: (unerwartet mit Witz) Aber ich nicht.

ICH: (lacht) Ich versteh schon. Die Gespräche laufen an dir vor-
bei. Dann kommt Hanna mal zu dir, umarmt dich, dann ist sie wieder weg. Alle sagen höflich, „Guten Tag, Frau F***!“, und das war´s.

 

#

 

MUTTER: (ablehnend) Die ... die haben alle schon Glatze, furchtbar. Die Männer.

ICH: (unangenehm berührt) Das ist eine Mode. Lieber Glatze als vereinzelte Haarreste. Glatze wirkt männlich.

MUTTER: (verachtend) Und dick sind die, die jungen Mädchen.

ICH: (ratlos) Ist das so schlimm? Warum findest du das so schlimm?

MUTTER: (keine Reaktion)

ICH: (plötzlich, wider besseres Wissen) Ich finde das eigentlich nicht so gut, dass du immer an allen was auszusetzen hast. Die Pflegerin, die dir den Blutdruck misst, gefällt dir nicht. 

MUTTER: (verdrossen) Die ist unfreundlich.

ICH: (verzweifelt) Männer, die eine Glatze haben, sind unten durch, dicke Frauen sind unten durch. Wer findet denn Gnade vor dir? Du bist auch nicht mehr rank und schlank, wie du es gewesen bist. Warum ist das so wichtig, das Aussehen! Du reißt alle Brücken ein. Mit deinen Freun-
dinnen hast du dich verkracht. Weil sie etwas gesagt haben, das dir nicht gefällt. Dabei kannst du selbst sehr verletzend sein. (wütend) Hör mir zu! Das ist dieser uralte Familiendünkel. Alle anderen sind nichts wert. Nur wir, nur deine Kinder. 

MUTTER: (unbeteiligt) Nu lass es uns mal lassen.

ICH: (laut) Ja, klar. Lassen, lassen. 

 

#

 

ICH: (weint)

MUTTER: (hilflos) Was ist denn? Was ist denn?

ICH: (kniet bei ihr) Mutter, ich bin so traurig. Über dich. Weil es dir schlecht geht. Weil du traurig bist, weil du allein bist. Weil ich dir nicht helfen kann. (weint ausbruchshaft)

MUTTER: (streicht mechanisch über sein Haar) Christian, Christian. Nu is doch gut. Mach ... mach dir wegen mir keine Sorgen.

ICH: Mach ich aber.

MUTTER: Musst du aber nicht. Ich ... ich schaff das schon.

ICH: (setzt sich, nimmt ihre Hand)

MUTTER: (schaut, kein Nachhall der Emotion)

 

#

 

MUTTER: Willst du noch was essen?

ICH: (enttäuscht, schüttelt den Kopf)

 

#

 

ICH: Hast du Frau Rademacher gesehen, in letzter Zeit?

MUTTER: Nein.

ICH: Ich glaube, die kann auch nicht mehr allein raus.

MUTTER: Kann sein.

ICH: Und Margret?

MUTTER: Was ist mit Margret?

ICH: Hast du von ihr was gehört?

MUTTER: (Pause) Sie hat mal angerufen.

ICH: Was hat sie erzählt.

MUTTER: (unwillig) Weiß ich nicht.

 

#

 

MUTTER: (geht raus)

ICH: (wartet)

 

#

 

MUTTER: (im Mantel, wirft etwas in den Abfall, setzt sich)

ICH: (ihm fällt etwas ein, riecht unauffällig an einem Teller kal-
ter Milchsuppe, überprüft, ob das Brot in der Kammer schimmelig ist, schaut in den Kühlschrank, wirft einen Becher angebrochenen Frischkäse weg)

MUTTER: (währenddessen) Ich kau wieder an den Nägeln.

ICH: Wieder?

MUTTER: (betrachtet ihren Daumen)

ICH: Ich wusste nicht, dass du an den Nägeln gekaut hast.

MUTTER: (bestätigt)

ICH: Der Nägelkauer bin doch ich.

MUTTER: Muss ich wieder mit aufhören.

ICH: Zeig mal. (Brille) Sonst seh ich nichts. Na, im Nagelbett isses noch nicht. Oder? Doch. Bisschen. Mh. Meine Mutter kaut an den Nägeln.

MUTTER: (lustig) Ja.

ICH: Das wirft ja rückblickend ein ganz anderes Licht auf damals. Als du mich immer ermahnt hast, nicht an den Nägeln zu kauen. „Finger aus dem Mund!“, hast du immer gerufen, wenn du bei mir reinkamst.

MUTTER: Ja?

ICH: Ja. Nicht grad freundlich. Und du meintest, das säh´ doch nicht schön aus, beim Klavierspielen. Und die Mädchen fänden das sicher auch nicht schön.

MUTTER: (keine Pointe!) Die sind ... sind alle so dick.

ICH: (ignoriert den Einwurf) Das erste Mal, dass das Kauen aufgehört hat, ganz von selbst, das war, als ich auf der Schauspielschule angenommen wurde. Aber dann hat´s wieder angefangen. Hat noch paar Mal aufgehört und wieder angefangen.

MUTTER: (schaut ihn mit etwas zusammengekniffenen Augen an, dann senkt sie den Blick in den Schoß)

 

#

 

ICH: Was war dein Vater für ein Mann? Wollte ich dich fragen.

MUTTER: (Pause) Er war lieb.

ICH: (bestätigt) 

MUTTER: Er hat mich liebgehabt.

ICH: Woran erinnerst du dich?

MUTTER: (zuckt mit den Achseln) Er hat uns dann bei Pelzer vorm Laden spielen sehen ...

ICH: Wenn er aus dem Büro kam.

MUTTER: Dann gab´s schon mal Bonbons.

ICH: Er hat euch Bonbons gegeben.

MUTTER: Ja.

ICH: (wartet)

MUTTER: (schweigt)

 

#

 

ICH: Warst du gestern beim Friseur?

MUTTER: Ja.

ICH: Freitags.

MUTTER: Freitags.

ICH: Gehst du morgen zu Hermanns hoch?

MUTTER: Da geh ich manchmal hoch, ja. Der ... Hermann kann sich gar nicht mehr bewegen.

 

#

 

MUTTER: Die legen mir die Zeitung hin.

 

#

 

MUTTER: Möcht´ ich gar nicht.

ICH: Warum? Was lesen. (Pause) Liest du noch?

MUTTER: Ja.

ICH: (überlegt, ob das stimmt) Was liest du?

MUTTER: (zuckt mit den Achseln)

ICH: Geht der Fernseher wieder?

MUTTER: Nein.

ICH: Nein?

MUTTER: (bestätigt)

ICH: Er war doch eben an.

MUTTER: Der ... der hat kein Bild.

ICH: Warum sagst du das denn nicht! (geht raus)

MUTTER: (ihm nach)

ICH: (aus dem Wohnzimmer) Jetzt ist es aber da. Zeig mir mal, wie du das machst, wenn du den anmachst. Aha ... Du drückst erst auf den Programmknopf, dann auf den ... den Knopf zum Einschalten. Warte mal! Also, das ist nicht nötig. Du brauchst vorher nicht auf den Programmknopf drücken. Mach einfach an, dann läuft automatisch das Programm, das du vorher hattest. Aha, und wieso ... Kanal 11? Wie komme ich jetzt zurück? Aha, nur kurz berühren. Nur ganz leicht berühren. Ah, Verflucht! Der Scheißknopf reagiert aber auch auf die kleinste Berührung. Wieder Kanal 11 ... Aha – das braucht immer. Dann glaubt man, reagiert nicht, schon hat man wieder draufgedrückt, dann springt´s. 

MUTTER: (kommt aus dem Wohnzimmer)

ICH: (von drüben) Wer denkt sich das aus! Wer soll damit klarkommen, in deinem Alter. Ich stell´s aufs Zweite ein, ja?

MUTTER: (steigt aus den Schuhen, ab)

ICH: (kommt ins Zimmer) Mutter?

MUTTER: (irgendwo)

ICH: Mutter, wo bist du? Soll ich dir was auf dem Klavier vorspielen?

MUTTER: (nichts)

ICH: (ins Schlafzimmer) Ach, hier. Hast du dich hingelegt.

MUTTER: (hell) Ja.

ICH: Gut. (Stille) Ich fahre dann jetzt.

MUTTER: Ja.

ICH: Kuss.

MUTTER: Schön, dass du da warst. 

ICH: Ja.

MUTTER: Komm mal wieder.

ICH: (kommt herein, Jacke an, schnell ab)

 

#

 

MUTTER: (auf Socken, ins Wohnzimmer)

 

#

 

MUTTER: (wieder herein, ins Telefon) Der funktioniert nicht. 

ILSE: (im Telefon, grüßt bewusst) Hallo, Mutter. Der Fernseher funktioniert nicht?

MUTTER: Nur ein blaues Bild.

ILSE: Ist Christian schon weg?

MUTTER: Ja, der ist weg. 

ILSE: Okay. Ich komme.

MUTTER: (legt ohne Gruß auf)

 

Im Vorbeigehen drückt sie auf einen Knopf an der Wand, der dem Sicherheitsdienst signalisiert, dass alles in Ordnung ist.

 

  

 

3. Bild

 

ICH: (am Tisch, Kopf aufgestützt)

ILSE: (läuft durch, mit Unterwäsche in der Hand) Alles nass.

ICH: (stumm)

ILSE: (nach hinten) So ...

 

Mutter, entkleidet, ins Bad.

 

ILSE: (bei ihm) 

ICH: Ich glaube, sie gibt einfach auf. Bisher ist sie noch aufgestanden, wenn sie aufs Klo musste. Jetzt lässt sie´s einfach rauslaufen.

ILSE: (trocken) Kann sie ja machen. Nur reicht dann die Einlage nicht mehr.

ICH: Sie gibt auf, auf allen Ebenen. Dass sie die Medikamente nicht mehr organisiert kriegt. Dass sie nicht mehr isst. Wenn man ihr was hinstellt, isst sie. 

ILSE: Dann hat sie auch Hunger.

ICH: Wenn jemand dabeisitzt. Wer isst schon gern allein.

ILSE: Klar.

ICH: Wir lassen sie im Stich.

ILSE: (verärgert)

 

#

 

ILSE: Alles in Ordnung, Mutter?

MUTTER: (vom Bad) Ja-a.

ICH: Wir geben Aufheller, und das muss reichen.

ILSE: (genervt) Was sollen wir tun?

ICH: Ich müsste zu ihr ziehen.

ILSE: Ja. Kannst du ja machen.

ICH: Nein -

ILSE: (gleichzeitig) Nein, eben. Das geht nicht. (ins Bad)

ICH: Sie gibt auf. Sie legt sich in den Erker, da liegt sie dann. Sie steht nicht mehr auf. Sie denkt, wenn sie es so macht, stirbt sie. Aber das kann lange dauern, Mutter. 

ILSE: (wieder da)

ICH: Warum hat sie eigentlich nicht auf den Alarmknopf gedrückt. Hatte sie den nicht an?

ILSE: Doch.

ICH: Wahrscheinlich weiß sie überhaupt nicht mehr, wozu der gut ist.

ILSE: Ich habe auch nicht daran gedacht, dass man das immer wieder trainieren muss.

 

 

ICH: Glaubst du, sie denkt noch an Vater?

ILSE: Denkst du noch an Vater?

ICH: Na klar.

 

#

 

ICH: Sie ist doch noch da! Ich habe nicht die geringste Ahnung, was in ihr vorgeht.

ILSE: Hängst du so an ihr?

ICH: Ich weiß nicht. Ich hab mich ja nicht umsonst von ihr fern-
gehalten. Warum ist sie nicht mehr dieselbe? Heute ist sie eine alte, unerträgliche Greisin, die ihre sieben Sinne nicht mehr beieinander hat. Neulich ... Da waren wir am Rhein. Und auf dem Rückweg sind wir über einen Kinderspielplatz gegangen. Und ein Junge ruft ihr nach: „Böse, alte Mieze-
katz´!“ Immer wieder. „Böse, alte Miezekatz´!“ Ich weiß gar nicht, was den geritten hat. Er wollte sich vielleicht auf-
spielen, vor den Mädchen. Aber das war gespenstisch. „Böse, alte Miezekatz´!“  

ILSE: Hat Mutter das gehört?

ICH: Nicht mit ihren normalen Ohren. (Pause) Wieso darf der das! Was weiß der. Was weiß der darüber, wie schön sie war, wie lebendig. Wo ist diese Mutter hin!

ILSE: Die gibt es nicht mehr.

ICH: Das ist doch furchtbar.

ILSE: Ein Teil war immer schon so.

ICH: Wie?

ILSE: Nörgelig, verdrossen.

ICH: Ja, sie kriegt die Quittung.

ILSE: (umarmt ihn)

ICH: Ich steh zu Hause in meiner Wohnung, an meiner Single-Küche. Und ich spür´ richtig, wie ihr Körper von meinem Besitz ergreift. Ich beweg´ mich genauso langsam, genau-
so tuttelig. So, als ob sie in mich reinwächst. 

ILSE: (schüttelt den Kopf)

ICH: Ich glaube, ich will das alles für sie übernehmen. Ich krieche in ihren Körper rein und sage: Ich übernehme das für dich, Mutter. Aber das kann ich nicht, das kann ich nicht.

ILSE: Nein.

ICH: Es ist, als ob ich ihr nur so zeigen kann, dass ich sie liebe. 

ILSE: (etwas kalt) Da gibt´s andere Möglichkeiten.

 

#

 

ICH: (nüchtern) Ich habe totale Panik, dass das unbewusst so abläuft. Dass ich krank werde. Ich produzier´ tausend Fehlleistungen am Tag. Ich denk´, ich werde dement. Aber ich will das nicht. Mein Leben soll noch nicht vorbei sein. 

ILSE: Ihres ist vorbei.

ICH: Ich muss ihren Körper aus meinem abtreiben. Aber wenn ich das tue, dann stehe ich draußen. Dann muss ich sie ziehen lassen. (weint) Ich hab nie begriffen, warum die Eltern sterben müssen. Und sie haben´s mir auch nicht erklärt. Keiner hat´s mir erklärt.

ILSE: (ins Bad)

ICH: Warum muss man sterben. Das ist nun mal so, Jung. Besonders einfallsreich ist das auch nicht, lieber Vater.

 

MUTTER, aus dem Bad. 
MUTTER, im Badetuch zwischen den Kindern.

 

#

 

ICH: (cremt die schrundigen Stellen auf der Haut der Mutter ein, im Gesicht, an den Armen, auf den Schultern)

 





 

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